Wer entscheidet über die Behandlung?

Ulrich Hemel geht der Frage nach, wer über die Behandlung entscheiden soll – der Patient, der Arzt oder ein anderer?

Menschen sind neugierig und lernfähig- und dies umso mehr, je stärker es um ihre eigenen vitalen Interessen geht. Das Internet bietet eine solche Fülle an Gesundheitsinformationen, dass kundige Patienten sich manchmal so stark eine eigene Meinung bilden, dass sie dem Arzt die eigene Therapie oder die Behandlung ihrer Familienangehörigen in die Feder diktieren wollen.

Leitgedanke: Technischer Fortschritt und diagnostische Knappheit bedingen einander

Dadurch kann die Rolle des Arztes sich ändern: Er wird zum Diskussionspartner und Qualitätsbeauftragten des Gesundheitswesens, entscheidet aber nicht mehr ganz alleine über Behandlungswege und Therapien.

Dazu kommt der technische Fortschritt. Bessere mikroskopische Möglichkeiten, aber auch moderne bildgebende Verfahren erlauben eine genauere Diagnostik im Körper, haben aber auch ihrerseits Rückwirkungen auf die Rolle des Arztes. In manchen Fällen wird er so viel Zeit auf die Beherrschung komplexer Maschinen und das Lernen einer sehr eigenen Bildsprache verwenden müssen, dass er stärker als Bedienungstechniker denn als Therapeut zur Geltung kommt.

Wenn dies so ist, hängt die Entscheidung über eine Therapie womöglich vom zugänglichen Stand der Diagnostik, damit aber von Entscheidungen über die apparative Ausstattung einer Arztpraxis, eines Versorgungszentrums oder eines Krankenhauses ab.

Technischer Fortschritt erzeugt damit zugleich diagnostische Knappheit: denn nicht überall können teure Maschinen auf dem letzten verfügbaren Stand der Technik vorgehalten werden. Wer aber entscheidet in diesem Fall über den Zugang von Patienten und Patientinnen zu solcher Diagnostik?

Kernkriterien: Die Spannung zwischen meritokratischen und demokratischen Gerechtigkeitsüberlegungen

Eine recht leichte Lösung könnte ein marktidealistischer Ansatz sein, der die Zahlungsfähigkeit und Zahlungsbereitschaft von Patienten in den Vordergrund rückt.
Als Grundsatz gilt dann: Wer sich eine teure Diagnostik leisten und wer eine zweite oder dritte Arztmeinung bezahlen kann, der soll sie auch haben.

Beliebt sind solche Argumente dort, wo es um den internationalen Medizintourismus geht, etwa bezogen auf bestimmte arabische Länder, deren Oberschicht z.B. in München eine spezielle Operation ausführen lässt.

Wendet man das Kriterium der Gerechtigkeit an, dann kann die Marktseite nicht völlig ignoriert werden: Die teure Bezahlung teurer Apparaturen und Verfahren ermöglicht am Ende einen Erkenntnisfortschritt, ferner auch die Verbreiterung in der Anwendung neuer Methoden, die nach Ablauf einer gewissen Zeit auch einer breiteren Masse zu Gute kommt.

Gleichzeitig wird aber auch deutlich: Marktansätze alleine genügen nicht. Zum einen ist die Verteilung von Vermögen nicht nur meritokratisch, also nach dem Verdienst der einzelnen Verfügungsberechtigten ausgestaltet. Die Eröffnung von Therapiezugängen ausschließlich nach monetärer Potenz wäre also darüber hinaus eine Engführung dessen, was meritokratisch bedeuten kann. So wurden beispielsweise in der untergegangenen Sowjetunion oder auch DDR Politiker bevorzugt behandelt.

Doch selbst wenn ein meritokratischer Angang sinnvoll möglich wäre, lässt der demokratische Gedanke der prinzipiell gleichen Würde und der gleichen Rechte aller Menschen keine ausschließliche Staffelung von Zugängen zu komplexen Gesundheitsleistungen nur nach Portemonnaie zu. Vielmehr würde eine Medizin nach Kontostand den Gedanken einer Solidargemeinschaft im Gesundheitswesen ad absurdum führen.

Folge dieser Überlegung ist aber unverzüglich, dass der Allgemeinheit die hohen Kosten für spezielle diagnostische Verfahren aufgebürdet werden. Wenn im Extremfall 10% aller Kosten für nur 0.1% aller Patienten aufgewendet werden, entstehen neue Gerechtigkeitsfragen, die ihrerseits auf die Entscheidung über die Zulassung von Standards oder individuellen Therapien zielen.

Leitlösung bei der Frage nach der Behandlung: Prinzipiengeleitete Allokation und Mix der Zugangsverfahren

Wenn unterschiedliche Lösungsprinzipien jeweils zu Spannungen im Feld von Gerechtigkeitserwägungen führen, dann hat es sich im Sinn der Güterabwägung häufig als sinnvoll erwiesen, im Sinn des kleineren Übels konkurrierenden Prinzipien einen vorab definierten Raum zu geben.

Dies könnte bedeuten, dass im Fall teurer und damit sehr knapper High Tech Medizin ein Teil der diagnostischen Kapazität – etwa ein Drittel- tatsächlich auf dem freien Markt zur Verfügung gestellt wird. Vorteilhaft ist daran, dass damit auch eine Grundfinanzierung des allgemeinen Gesundheitssystems, aber auch eine Weiterentwicklung von Innovationen ermöglicht werden.

Zwei Drittel der verfügbaren Leistung wären den Allokationsregeln des Gesundheitssystems vorbehalten. Dabei wird vorausgesetzt, dass die schwierige Aufgabe der Lenkung und Steuerung von Leistungen überhaupt möglich ist. Und dies ist genau dann der Fall, wenn prinzipiengeleitet vorgegangen wird und die Prinzipien selbst einer öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht werden.

So haben sich in vielen Fällen Punktsysteme bewährt. Dabei spielen Faktoren wie die Schwere einer Krankheit, aber auch soziodemographische Fragen wie z.B. Lebensalter, Anzahl minderjähriger Kinder oder versorgungsberechtigter Familienangehöriger und andere eine Rolle. Es lässt sich auch durchaus denken, dass einzelne Krankenkassen zu unterschiedlichen Gewichtungen der wesentlichen Kriterien gelangen und dass diese unterschiedliche Gewichtung auch als entscheidungsrelevant zugelassen wird.

Eins ist allerdings klar: Je knapper bestimmte Ressourcen sind, desto weniger ist der Zugang zu Therapien lediglich ins Belieben der einzelnen Person gestellt. Eine Sache ist es, eine zweite Meinung für Venenbeschwerden einzuholen und dem Arzt eigene Recherche-Ergebnisse aus dem Internet vorzulegen. Eine andere ist es, über sehr teure diagnostische und therapeutische Verfahren zu entscheiden, bei denen am Ende die Logik institutioneller Entscheidungswege nicht zu umgehen ist.

Im Endeffekt sind Entscheidungen über Standards und individuelle Behandlungswege abhängig vom Typ der gegebenen Entscheidungssituation. Eine Leitlösung sollte daher dem Pfad der Subsidiarität folgen und sich fragen: Was soll und kann auf welcher Ebene sinnvoll entschieden werden?

So sind und bleiben Patienten die Letztentscheider über ihr Leben und ihren Lebensstil, damit aber auch über ihre Compliance mit angebotenen Behandlungswegen. Ärzte müssen im Rahmen der ihnen verfügbaren Kenntnisse und Mittel ein höchst mögliches Maß an Autonomie in ihrer diagnostischen und therapeutischen Entscheidung behalten dürfen. Erst an der Spitze der Pyramide, also bei sehr kostenintensiven Verfahren, kommt die Allgemeinheit zum Zuge, die durch Repräsentanten des institutionellen Gesundheitssystems mehr oder weniger unvollkommen vertreten wird.

Dort, an der Spitze der Leistungspyramide, sind Gedanken der Allokation allerdings auch unvermeidlich- so sehr diese im Einzelfall auch als Härte empfunden werden mögen. Sind Allokationsentscheidungen jedoch auf Prinzipien gestützt, die Gerechtigkeitserwägungen grundsätzlich stand halten, lassen sich auch schwierige Entscheidungen begründen und letztlich auch im sozialen Konsens durchsetzen.