Wo sind die Grenzen der Solidarität im Gesundheitswesen?

Wo sind die Grenzen der Solidarität im Gesundheitswesen, fragen sich viele, die direkt oder indirekt in der gesellschaftspolitischen Debatte involviert sind, so auch Ulrich Hemel.

Wenn jeder nach Maßgabe der eigenen finanziellen Kraft in das Gesundheitssystem einzahlt, dann erwirbt er nicht nur Ansprüche, sondern wird auch Teil einer Solidargemeinschaft. Diese mag anonym sein, aber gerade deshalb werden Gerechtigkeitsgesichtspunkte umso vordringlicher, wenn es darum geht, das richtige Maß an Leistung und Gegenleistung zu definieren.

Dass Unfallopfer ohne Ansehen der Person in einem Krankenhaus versorgt werden müssen, ist in Deutschland Konsens. Doch selbst ein so scheinbar eindeutiger Sachverhalt lädt zum Nachdenken ein, wenn die Randbedingungen unschärfer werden: Soll dies auch dann gelten, wenn das Unfallopfer sich in betrunkenem Zustand mit einem anderen Fahrzeuglenker ein Wettrennen auf öffentlichen Straßen geliefert hat? Oder wenn es sich um einen Skifahrer handelt, der trotz eindeutiger Warnung abseits der Pisten lebensgefährlich verunglückt ist?

Private Krankenversicherungen lösen solche Fragen gelegentlich durch einen vertraglichen Haftungsausschluss. Dann sind die Folgen von Extremsportarten ebenso wenig versichert wie die Konsequenzen aus leichtsinnigem oder grob fahrlässigem Verhalten. Doch kann dies für die Gemeinschaft aller Versicherten so gelten- und wenn ja, wo läge eine Grenze?

Leitgedanke: Möglichkeiten und Grenzen der Solidargemeinschaft

Nun gehört es zum Wesen einer Solidargemeinschaft, dass sie möglichst wenig zwischen den verschiedenen Wechselfällen des Lebens unterscheidet. Der Grund dafür liegt im Diskriminierungsverbot, denn jeder Leistungsausschluss betrifft bestimmte Gruppen von Personen stärker, andere weniger stark- mit der Folge, dass zu Recht die Frage aufzuwerfen sein wird, welche Gruppen am Ende die stärkere Lobby haben, wenn es um Entscheidungen zu Leistungen und Leistungsausschlüssen kommt. Der Gedanke des Diskriminierungsverbots hat daher nicht nur den Vorteil, spitzfindige Abgrenzungsdiskussionen zu vermeiden, sondern minimiert darüber hinaus den gesellschaftlichen Aufwand für gesundheitspolitische Interessengruppen.

Treibt man den Gedanken der Solidargemeinschaft auf die Spitze, bekommen alle alles, was möglich ist. Extremsportler, Raucher, Drogenabhängige, aber auch Träger sehr teurer chronischer Krankheiten und Hochbetagte hätten ungehindert und ungefiltert den vollen Zugang zu den Spitzenleistungen des Gesundheitswesens. Klar ist hier zumindest: Ein solches System ist extrem teuer. Und es verleitet nicht zu einer gesunden, sondern tendenziell eher zu einer ungesunden Lebensweise: Der Reparaturbetrieb Gesundheitswesen steht ja zur Verfügung.

Wenn wir eine solche Extremposition überwinden wollen, ist es nötig, Kriterien für spezielle Lebenssituationen zu finden, die einen Ausschluss von Leistungen oder einen höheren Eigenbeitrag rechtfertigen.

Gleichzeitig wird eine Haltung zum Leistungsumfang der Solidargemeinschaft erforderlich: Geht es um die Erstattung von Mindest- oder von Spitzenleistungen? Wo verläuft die Grenze zwischen dem medizinisch Notwendigen und dem, was darüber hinaus geht und nicht mehr Gegenstand eines allgemeinen Gesundheitssystems sein sollte?

Kernkriterien für eine Solidargemeinschaft: Das Nötige und das Gerechte

In Deutschland war lange Zeit der Gedanke vorherrschend, das Gesundheitssystem müsse alles Machbare und Wünschenswerte bezahlen oder erstatten. Mit dem stärkeren Kostendruck aus dem System kam es zu Änderungen, etwa bei der Kostenerstattung für Brillen. Hier werden zwar die Gläser, nicht mehr aber die Fassungen erstattet, obwohl niemand nur Gläser brauchen kann.

Umgekehrt ging 2010 eine Krankenkasse wegen eines einzigen, sehr teuren chronischen Patienten in die Insolvenz. Aber auch onkologische Behandlungen können sechsstellige Kosten verursachen.

Wie so häufig gilt auch hier im Gesundheitswesen: Eine ein für allemal gerechte Lösung ist nicht zu finden. Möglich ist es allerdings, gerechtigkeitsbasierte Entscheidungskriterien zu finden, die Willkür minimieren.

Eine erste Achse der Unterscheidung ist das Verursachungsprinzip. Ein solidarisches Gesundheitswesen kann und darf zwar – um bei diesen Beispielen zu bleiben- Extremsportler und Höchstbetagte nicht von Leistungen ausschließen. Es kann aber sehr wohl dort einen Zuschlag („Malus“) begründen, wo eine freie Verursachung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu unterstellen ist. Liebhaber von Extremsportarten könnten dann beispielsweise für ihr Hobby eine Art Gesundheits-Teilkasko-Versicherung abschließen, die diejenigen Leistungen umfasst, die ein allgemeines System im Interesse der Solidargemeinschaft ausschließen würde.

Was bei Extremsportarten gangbar zu sein scheint, wird beim Lebensalter schon schwieriger. Ab welchem Alter ist es gerechtfertigt, eine Herzverpflanzung nicht mehr durch das Gesundheitssystem zu begleiten? Ab 70? Oder eher ab 90? Nun könnte man sagen, die Konstitution der meisten 90-jährigen ließe eine Herzverpflanzung von Haus aus nicht zu. Das Problem aber bleibt!

Gerechtigkeitserwägungen erfordern außerdem regelmäßige Überprüfungen solcher Spielregeln. So ist die körperliche Verfassung von 70-jährigen heute in vielen Fällen der von 50-jährigen aus dem 20.Jahrhundert vergleichbar. Käme es wirklich zum Ausschluss von definierten Spitzenleistungen für Hochbetagte, dann müssten solche Regeln angesichts der realen Entwicklung immer wieder überprüft werden. Und es müsste möglich werden, auch für solche Fälle schon frühzeitig eine Zusatzversicherung abzuschließen.

Wie aber steht es mit selbstschädigendem Verhalten? Sollten Raucher oder Übergewichtige mit einem Malus belegt werden? Hier wird die Argumentation noch dorniger. Einerseits ist die Zuschreibung der Verursachung deutlich schwieriger- es kann schließlich Ursachen geben, die ein schädliches Verhalten fördern, aber mit der Person des Versicherten nichts zu tun haben. Was passiert, wenn jemand in einer extremen psychischen Notsituation in ein Suchtverhalten abgleitet? Ist nicht gerade das eine Situation, in der die Solidargemeinschaft besonders gefordert ist?

Außerdem wären der Kontroll- und Definitionsaufwand gigantisch. Schließlich sticht auch ein im engen Sinn philosophisches Argument: Bei der Beurteilung von schädlichem Verhalten sind auch die Beurteiler von den Erkenntnissen der eigenen Zeit abhängig. Sie werden im einen oder anderen Fall unweigerlich Opfer des Zeitgeistes. Ein extremes Beispiel für solche Zeitgeist-Einflüsse ist die Behandlung von Pazifismus als Geisteskrankheit in den Zeiten des I.Weltkriegs in Deutschland.

Leitlinien und Handlungsempfehlung für die Solidarität im Gesundheitswesen: Strenge Gerechtigkeitskriterien, Teilkasko-Lösungen und Ausschlusskriterien für Höchstleistungen

Gerechtigkeitserwägungen führen zu einem eher restriktiven Verhalten bezüglich der Einführung eines Malus oder eines Leistungsausschlusses im solidarischen Gesundheitswesen.

Andererseits gibt es Sachverhalten und Verhaltensweisen, die sehr klar von der zumutbaren Traglast einer Solidargemeinschaft abzugrenzen sind. In diesem Fall – etwa bei Extremsportarten- wird und muss es allerdings möglich sein, eine Zusatzversicherung abzuschließen, die dem Gedanken des „Teilkasko“-Schutzes in der Kfz-Versicherung nahe kommt.

Aufgrund der Grenzen der Belastbarkeit jedes Finanzierungssystems ist es außerdem gerechtfertigt, Entscheidungen über den Ausschluss von medizinischen Höchstleistungen zu treffen, die beispielsweise an ein bestimmtes, objektiv feststellbares Lebensalter geknüpft sind. Eine solche und ähnliche Überlegungen sind nicht ungerecht: Sie beruhen auf Zumutbarkeitsfragen, die zwar kontrovers diskutiert werden, aber in geordneten gesundheitspolitischen Verfahren geregelt werden können. Ähnliche Verfahrensregeln gibt es schon heute: Die Suche nach einem vermissten Skifahrer oder Bergwanderer wird nach einer bestimmten Zeit abgebrochen- sie wird eben entgegen dem verständlichen Wunsch der Verwandten nicht auf ewige Zeit fortgeführt!

Zu unterscheiden ist hier allerdings streng zwischen medizinischen Basisleistungen und Gesundheitshöchstleistungen. Ausnahmslos niemand darf der Schutz des Gesundheitssystems versagt bleiben, wenn es um Standardmaßnahmen geht.

Als Lösungsansatz hilfreich ist hier die Umkehr der Beweislast: Wenn definiert wird, welchen Umfang Basisleistungen haben, dann erübrigt sich die Diskussion darüber, welche Leistung jetzt gerade erstattet wird und welche nicht. Geht es aber um Höchstleistungen, die oft ja auch Wartelisten bei hilfesuchenden Patienten nach sich ziehen, lässt sich umgekehrt nach Kriterien fragen, die wie Vorfahrtsregeln funktionieren können. Die leitende Frage ist hier nämlich: Wem kommt der Leistungsumfang einer medizinischen Höchst- und Spitzenleistungen am stärksten zu gute?

Will man sich hier von der Willkür von Einzelfallentscheidungen frei machen, bleibt nur der skizzierte Weg, der darin besteht, Kriterien für den Ausschluss von Höchstleistungen ohne Ansehen der Person zu definieren.

Problematisch aber wäre die Einführung eines Malus für gesundheitsschädliches Verhalten wie z.B. Rauchen oder Übergewicht. Abgesehen vom nötigen Kontrollaufwand würde dies in einer Weise zum gesellschaftlichen Imperativ des Wohlverhaltens führen, der entweder an eine Gesundheitsreligion oder einen gesundheitspolitischen Totalitarismus erinnern würde. Dies aber kann auch nicht im Interesse einer an Freiheit und Gerechtigkeit orientierten Solidargemeinschaft liegen!