Wo sind die Motivatoren der Solidarität?

Wird das Gesundheitssystem als solidarische Leistungsgemeinschaft aufgefasst, worüber in Deutschland Konsens besteht, stellt sich nicht nur die Frage nach einem möglichen Malus, sondern auch nach einem Bonus für diejenigen, die sich besonders gesundheitsförderlich verhalten – die Frage nach den Motivatoren der Solidarität drängt sich auf.

Leitgedanke zu den Motivatoren der Solidarität: Gesundheitsmotivation reicht über monetäre Anreize hinaus

Bekannt ist beispielsweise aus den privaten Krankenkassen die Rückvergütung eines Bonus, wenn über einen bestimmten Zeitraum keine Leistungen in Anspruch genommen wurden.
Tatsache ist aber, dass das einzigartige Gut „Gesundheit“ durch geldliche Anreize nur unvollkommen gesteuert werden kann. Zum einen kann es vorkommen, dass Krankheiten verschleppt werden, so dass ihre Folgen später teurer zu Buche schlagen als eine rechtzeitige Untersuchung.

Zum anderen gehören Gesundheit und Krankheit zu denjenigen Zuständen, die in einer schwer beschreibbaren Mischung sowohl Ausdruck verantwortungsvollen Handelns wie auch Ergebnis schicksalhafter Ereignisse sind. Wenn eine 75-jährige Raucherin an Lungenkrebs erkrankt, liegt der Zusammenhang mit dem eigenen Verhalten nahe. Und im Sinne einer gesundheitspolitischen Motivation könnte es hilfreich sein, eine Art Nichtraucherbonus im Leistungssystem des Gesundheitswesens zu verankern- ohne der alten Dame Hilfe zu verweigern!

Jedem von uns sind aber auch andere Fälle bekannt: Da bekommt der 42-jährige, gesundheitsbewusste Vegetarier einen Herzinfarkt und leidet wegen zu spätem Eintreffen der Rettungskräfte an dessen chronischen Folgen. Oder es kommt zu einem vermeidbaren Behandlungsfehler- einer übersehenen Thrombose- bei der Geburtshilfe für eine an sich gesunde Frau von 38 Jahren- und deren Folgen ziehen sich über 2 Jahre hin.

Wenn von Motivatoren der Solidarität die Rede ist, muss daher sehr deutlich unterschieden werden, was schicksalhafte Verstrickung und was Ergebnis zurechenbaren Handelns ist!

Kernkriterien: Gerechtigkeit im Spannungsfeld zwischen Freiheit und totalitärer Gesundheitskontrolle

Auch wenn niemand sich als quasi-göttliche Instanz für das aufspielen darf, was als „Schicksal“ und das, was als „Folge eigenen gesundheitswidrigen Handelns“ zu sehen ist, sollten wir nicht vergessen, dass es Handlungen gibt, die nach dem besten Stand heutiger Erkenntnis gesundheitsförderlich und krankheitsvermeidend sind.

Dabei kann es sich um ganz klassische Themen wie etwa sportliche Bewegung und gesunde Ernährung handeln. Auch das Vermeiden gesundheitsschädlicher Verhaltensweisen wie etwa die regelmäßige Einnahme von Nikotin, Alkohol oder anderen Drogen kann hier aufgeführt werden. Sprechen wir aber von Motivatoren der Solidarität im Gesundheitswesen, führt der Ansatz bei solchen Verhaltensweisen aus mehreren Gründen in die Irre.

Zum einen bräuchte eine Gesellschaft einen nicht leistbaren Kontrollaufwand, um praktikable Wege der Umsetzung für einen Bonus oder Malus zu finden. In totalitären Regimen gab es einst einen Blockwart, der die Sozialkontrolle in den Wohnverhältnissen eines Wohnviertels ausübte. Wird aus guten Gründen eine solche Form der Sozialkontrolle nicht gewünscht, dann kann zwar an die gute Einsicht appelliert werden. Praktikable Formen der „Belohnung“ für gesundheitsförderliches Verhalten sind dadurch aber nicht zu erwarten.

Zum anderen wäre es ebenso schwierig, klare Abgrenzungen für gesundheitsförderliche Verhaltensweisen zu definieren. Wie viele Minuten Sport pro Woche reichen aus, um einen „Gesundheitsbonus“ zu erhalten? Lässt sich zu wenig Sport durch fleischlose Kost kompensieren? Gibt es am Ende ein „persönliches Gesundheits-Punktekonto“ bei der eigenen Krankenkasse, das zu besonderen Leistungen oder zu Beitragsermäßigungen berechtigte?

Bei tieferem Nachdenken zeigt sich: Auch für das Gesundheitswesen gilt immer wieder das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gerechtigkeit. Es gibt eben auch die Freiheit, gelegentlich Schokolade zu essen und einen über den Durst zu trinken. Das mag nicht ideal sein, gehört aber zur Bandbreite freien Verhaltens dazu. Würde eine Gesellschaft auf zu enge Weise Verhaltensideale durchsetzen wollen, käme es zu einer totalitär wirkenden Kontrolle.

Dass Kontrollwahn seinerseits krank machen kann, ist allseits bekannt und gilt auch für gesundheitsbezogenen Kontrollwahn. Die Bulimie scheint ein Krankheitsbild zu sein, das sich auf individueller Ebene genau aus einem solchen gesundheitsbezogenen Kontrollwahn speist.
Und wenn Gesundheit zur Gesundheitsreligion wird, geht unweigerlich Lebensqualität verloren.

Generelle Leitlösung: Gesundheitsbildung und Anreize zur Vorsorgeförderung

Es wäre allerdings zu einfach, nun sofort die Flinte ins Korn zu werfen und das Nachdenken über individuelle und kollektive Motivatoren der Solidarität im Gesundheitswesen einzustellen. Schließlich gilt auch hier das Gesetz der großen Zahl: Wenn viele Menschen eine kleine Stellschraube beeinflussen, ist der Gesamteffekt potenziell riesig.

Beispiele dafür sind Hygieneregeln in Krankenhäusern ebenso wie Vorsorgeuntersuchungen. Bei Kleinkindern sind bestimmte Vorsorgeuntersuchungen in den ersten Lebensjahren verpflichtend vorgeschrieben. Die Einsicht, dass damit potenziell großer Schaden auch vom eigenen Kind abgewendet werden kann, ist weit verbreitet, was sicher zur Akzeptanz dieser Maßnahme beiträgt.

Ein solches Modell ließe sich auch auf Erwachsene übertragen. Es ist durchaus im Bereich des Möglichen, für das Lebensalter ab 50 Jahren eine Reihe von Vorsorgeuntersuchungen zu definieren, die ähnlich funktionieren: Sie würden zur Früherkennung von Krankheiten um so besser beitragen, desto mehr Menschen an ihnen teilnehmen. Hier ließe sich beispielsweise sehr wohl mit einem Bonusmodell arbeiten: Wer beispielsweise in einem Fünfjahreszeitraum alle empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen macht, könnte einen definierten Beitragsrabatt oder den kostenlosen oder ermäßigten Zugang zu besonderen Versicherungszusatzleistungen erhalten.

Es steht zu erwarten, dass die Einsparungen durch die Früherkennung von Krankheiten deutlich höher sind als die Kosten der Vorsorgeuntersuchungen und des Bonusprogramms zusammen! Dies wäre umso mehr der Fall, desto stärker ein solches Motivationsprogramm mit Maßnahmen der Gesundheitsbildung verknüpft wird. So könnte im Programm zur Gesundheitsförderung durchaus aufgenommen werden, dass auch der Besuch gesundheitlicher Fachvorträge als Teil des Vorsorgeprogramms anerkannt wird!

Systemisch ergäbe sich aus einem solchen Motivationsansatz unter Beachtung von Freiheits- und Gerechtigkeitsgesichtspunkten ein Umsteuern in Richtung der Prävention vor jeglicher Therapie- ein Paradigmenwechsel, der bis heute noch nicht im Gesundheitssystem angekommen ist!