Manuelle Lymphdrainage (MLD) ist eine schöne Sache: Sie tut gut und reduziert Ödeme. Letzteres stimmt aber nur teilweise. Denn ohne eine Kompressionstherapie ist die Ödem-reduzierende Wirkung der MLD innerhalb weniger Stunden wieder vorbei. Man kann es gar nicht oft genug betonen: Das A und O in der Behandlung von Lipödemen, Lymphödemen und Kombinationsformen davon ist die Kompressionstherapie! Um das zu verstehen, müssen wir uns bestimmte Vorgänge näher ansehen, die im Gewebe ablaufen.
Die linke Seite unseres Herzens pumpt über das arterielle Blutgefäßsystem Blut in unseren Körper. Dieses hellrote „arterielle Blut“ enthält Sauerstoff, Nährstoffe, Salze, Hormone, zahlreiche andere Stoffe und ggf. auch Medikamente. Die nahe am Herz noch sehr dicken Arterien werden in ihrem Verlauf immer dünner und zahlreicher und bilden zum Schluss so dünne Haargefäße, dass sie mit bloßem Auge nicht sichtbar sind. Durch die Wände dieser „Kapillaren“ treten Wasser und Substanzen in den Zwischenzellraum („Interstitium“) über, die die Zellen zum Leben brauchen. Diesen Abschnitt der Kapillaren nennt man ihren „arteriellen Schenkel“, den Flüssigkeitsaustritt „Filtration“.
Anschließend daran folgt der „venöse Schenkel“ der Kapillaren. Dieser nimmt aus dem Interstitium Wasser, Stoffwechsel- und Abfallprodukte sowie andere Substanzen auf, um sie über das venöse Blutgefäßsystem den Ausscheidungsorganen (Nieren, Dickdarm) oder anderen Geweben zuzuführen. Die Flüssigkeitsaufnahme heißt „Resorption“. Resorbiert werden nur etwa 90 Prozent der filtrierten Flüssigkeitsmenge. Die im Gewebe zurückbleibende Flüssigkeit, das „Nettofiltrat“, ist nicht Folge einer Mangelhaftigkeit unseres Organismus, sie dient vielmehr zur Bildung der Lymphe.
Viele im Interstitium anfallende Substanzen sind zu grob, um durch die Wände der Blutkapillaren treten zu können. Dazu gehören vor allem Eiweiß und andere Makromoleküle, Zellbestandteile, Viren, ggf. geronnenes Blut und verschiedene Fremdstoffe (Teer aus Zigarettenrauch, Tätowierfarbe, durch Verletzungen eingetretener Schmutz etc.) Diese Dinge bilden zusammen mit dem Nettofiltrat die „lymphpflichtige Last“. Sie zu entsorgen, ist die Aufgabe des Lymphgefäßsystems.
Das Lymphgefäßsystem beginnt im Gewebe in Form eines engmaschigen Netzes aus Lymphkapillaren. Deren Durchmesser ist größer als die der Blutkapillaren und sie haben bewegliche Spalten, die auch größerer Partikel aufnehmen können. Nachdem die lymphpflichtige Last vom Lymphgefäßsystem aufgenommen wurde, heißt sie „Lymphe“. Diese wird vom Lymphgefäßsystem bis hinter die Schlüsselbeine transportiert und dort (im „Venenwinkel“) in den Blutkreislauf eingeleitet.
Jede Unterbrechung oder andere (z.B. angeborene) Mängel des Lymphgefäßsystems beeinträchtigen den Transport der Lymphe. Sobald weniger Lymphe abtransportiert wird als lymphpflichtige Last anfällt, sammelt sich Flüssigkeit im Gewebe an und es bildet sich ein Ödem. Um einer Ödembildung entgegenzuwirken, kann man
- die Filtration verringern
- die vorhandenen Mechanismen des Lymphtransports intensivieren
- alternative Wege für den Lymphtransport schaffen.
Die Menge des Nettofiltrats (filtrierte Menge minus resorbierte Menge) ist umso größer, je größer der Unterschied ist zwischen
- dem Blutdruck in den Kapillaren und dem Druck im Gewebe (Wasser wird mechanisch herausgedrückt!)
- dem Eiweißgehalt des Gewebes und dem des Blutes (Eiweiß zieht Wasser an!)
Und damit kommen wir zur Kompressionstherapie. Indem sie den Druck im Gewebe steigert, erfüllt sie gleichzeitig eine Vielzahl von Funktionen:
- Sie wirkt der Filtration entgegen, es gelangt weniger Flüssigkeit aus den arteriellen Kapillaren ins Gewebe.
- Sie verbessert die Funktion der Klappen und die Strömungsdynamik in den Lymphgefäßen und Venen und damit den lymphatischen und venösen Abfluss.
- Sie wirkt dem „Volllaufen“ des Ödems aufgrund der Schwerkraft entgegen.
- Sie aktiviert die Muskel- und Gelenkpumpe und verbessert dadurch den venösen und den lymphatischen Abfluss entgegen der Schwerkraft.
- Sie verteilt die lymphpflichtige Last über eine größere Fläche, wodurch wesentlich mehr Lymphgefäße an deren Abtransport beteiligt werden. Sie schafft also alternative Wege für den Lymphtransport.
Diese Faktoren bewirken eine Reduktion der lymphpflichtigen Last und verringern somit die Eiweißmenge im Gewebe. Dadurch wird das Blut im Verhältnis zum Gewebe eiweißreicher und zieht mehr Wasser an sich. Doch die Kompression zeitigt noch weitere Wirkungen:
- Sie verringert den Abstand zwischen den Blutkapillaren und den Zellen („Transit- oder Diffusionsstrecke“). Dadurch können letztere besser mit lebenswichtigen Stoffen versorgt und von Abfallprodukten befreit werden.
- Sie verbessert die Mikrozirkulation des Blutes und intensiviert dadurch den Stoffaustausch der einzelnen Zellen im Gewebe.
Diese beiden Faktoren sind von größter Bedeutung. Denn wenn sich vermehrt Flüssigkeit im Interstitium ansammelt, „quetscht“ diese die Blutkapillaren und die Zellen auseinander. Die Substanzen, die zwischen den Blutkapillaren und den Zellen ausgetauscht werden müssen, um die Zellen am Leben zu halten, haben dann einen deutlich längeren Weg zu durchlaufen. Verdoppelt sich diese „Transit- oder Diffusionsstrecke“, verringert sich die Versorgung der Zellen auf ein Viertel. Bei einer dreifach größeren Diffusionsstrecke sinkt der Austausch auf ein Neuntel!
Je stärker also ein Ödem ausgeprägt ist, desto schlechter wird das Gewebe versorgt und es kommt entsprechend vermehrt zum Zelltod. Und da abgestorbene Zellen für Bakterien und andere Mikroorganismen ein „gefundenes Fressen“ sind, laufen im ödematisierten Gewebe viele Entzündungsprozesse ab, die wiederum schädlichen Einfluss auf das umgebende Gewebe haben. Aufgrund dieser Vorgänge ist die körpereigene Abwehrkraft im Bereich des Lymphödems geschwächt (lokale Immunsuppresion).
Durch den von ihr ausgeübten Druck verringert die Kompressionstherapie den Abstand zwischen Blutkapillaren und Zellen, wodurch letztere besser versorgt werden. Dies stärkt das Immunsystem sowohl im Ödembereich als auch allgemein: Das Risiko von Folgeerkrankungen verringert sich.
Die Kompression trägt auch zur Lockerung von verhärtetem Gewebe (Fibrosen) bei. Noch ist nicht ganz geklärt, worauf diese Wirkung beruht, sie ist jedoch eindeutig festzustellen. Auch in der Versorgung von Wunden wird die Kompressionstherapie eingesetzt, um hartes Narbengewebe zu verhindern bzw. aufzuweichen. Nachdem die Verhärtungen rückgängig gemacht sind, können die Lymph- und Blutgefäße in dem Gebiet wieder besser funktionieren.
Wir sehen also, dass die Kompressionstherapie in der Behandlung von Ödem-Erkrankungen eine zentrale Bedeutung einnimmt. Die MLD verbessert die Lymphbildung (damit bezeichnet man die Aufnahme der lymphpflichtigen Last in das Lymphgefäßsystem) und den Lymphtransport. Dieser Effekt klingt aber nach der Anwendung innerhalb kurzer Zeit ab, wenn die Kompressionstherapie unterbleibt oder unsachgemäß durchgeführt wird. Und wenn man vergleicht, wie lange die MLD-Anwendungen (zusammengezählt) im ambulanten Bereich pro Woche dauern und wie lange dagegen die regelmäßig angewandten Kompressionstherapie, wird klar, welche Bedeutung letzterer zukommt.
Beim Lymphödem wird mit der Kompressionstherapie auf die Reduktion des Ödemvolumens sowie die Lockerung von Verhärtungen hingearbeitet. Beim Lipödem ist die Volumenabnahme meist eher gering (kann aber in Einzelfällen dennoch beachtlich sein). Hier kann die Kompressionstherapie vorrangig zur Linderung der Schmerzen sowie gegen die Verschlimmerung sorgen. Ihre konsequente Anwendung in Verbindung mit viel Bewegung führt vielfach sogar zu einer völligen Schmerzfreiheit.
Kontraindikation
Liegen neben dem Lip- bzw. Lymphödem weitere Erkrankungen vor, kann dies eine Anpassung oder Einschränkung der Kompressionstherapie erfordern oder sie sogar ganz ausschließen. Gemäß den Leitlinien der Gesellschaft Deutschsprachiger Lymphologen zur Diagnostik und Therapie der Lymphödeme und anderen Quellen ist die Kompressionstherapie auf den Zustand des Patienten bei folgenden Erkrankungen individuell abzustimmen:
- Diabetes mellitus, insbesondere in Kombination mit diabetischer Neuropathie und Mikro- und Makroangiopathie
- Chronisch-venöse Insuffizienz Stadium III (nach Widmer) bzw. Stadium CEAP C4b-C6 (Dermoliposklerose mit oder ohne Ulcus cruris)
- Maligne Erkrankungen (in Fällen von Rezidiven mitunter als palliative Maßnahme)
- Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises
- entzündliche Darmerkrankungen
- manifeste Herzinsuffizienz
- schweres allergisches Exanthem
- spastische Paresen
Nicht angewandt werden darf die Kompressionstherapie bei:
- akutem Erysipel
- akuter Thrombophlebitis / Phlebothrombose
- dekompensierter Rechtsherzinsuffizienz
- arterieller Verschlusskrankheit
- Malignom im Bereich des Lymphödems
- Myokardinfarkt
- Lungenödem
- nässenden Dermatosen
- Phlegmasia coerulea dolens
- septischer Phlebitis
- schweren Sensibilitätsstörungen
- Unverträglichkeit gegenüber dem Material
Die Kompressionstherapie darf keinerlei Schmerzen verursachen. Tut sie das, wird sie falsch angewendet oder es wurden andere vorhandenen Probleme nicht erkannt. Für die Behandlung von Lipödemen, Lymphödemen und Kombinationsformen davon gibt es drei Arten:
- Kompressions-Bandagierung
- Flachgestrickte Kompressions-Versorgung
- Intermittierende Pneumatische Kompressionstherapie (IPK)