Welchen Einfluss hat die demographische Entwicklung bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, fragt sich Ulrich Hemel, Leiter des Instituts für Sozialstrategie.
Keine Bevölkerungsgruppe nimmt in Deutschland so stark zu wie die über 100-jährigen!
Das steigende durchschnittliche Lebensalter bedeutet nämlich auch, dass die Zahl der Hochbetagten zunimmt. Für den einzelnen ist das erfreulich, für die Finanzierung von Gesundheits- und Sozialleistungen sind durch diese demographische Entwicklung allerdings erhebliche Lasten zu schultern.
Brisant ist in Deutschland und in vielen Ländern Europas nämlich die Mischung aus steigender Lebenserwartung und geringer Geburtenrate, die zu einem Bevölkerungsrückgang führt und die bedeutet, dass auf jeden jungen, arbeitsfähigen Menschen anteilig immer mehr kranke und/oder nicht erwerbsfähige Personen entfallen – eine demographische Entwicklung wie aus dem Bilderbuch.
Stiege die wirtschaftliche Produktivität in dem Maß, wie soziale und gesundheitspolitische Kosten des demographischen Wandels anfallen, dann wäre das Problem gelöst.
1. Leitgedanke: Durch die demographische Entwicklung wird Gesundheit teurer
1.1 Dies funktioniert aber aus zwei Gründen nicht: Zum einen wachsen die Gesundheitskosten regelmäßig stärker als die Wirtschaftsleistung eines Landes. Zum anderen zieht der „Altersbauch“ der demographischen Pyramide von Haus aus überproportional steigende Kosten nach sich: Jüngere Menschen kosten im Gesundheitssystem weniger als ältere.
1.2 Übersehen wird bei solchen Überlegungen aber auch die Rolle des medizinischen Fortschritts: Je langlebiger eine Gesellschaft ist, desto kränker ist sie auch. Dieses Paradox lässt sich daraus ableiten, dass in einem extrem armen Land schon ein einfacher Durchfall tödlich verlaufen kann. In einem wohlhabenden Land können umgekehrt Menschen eine Reihe von Jahren auch mit schweren und schwersten Beeinträchtigungen überleben. Außerdem nimmt die Häufigkeit von Demenzerkrankungen mit jedem Lebensjahrzehnt dramatisch zu – bis auf über 30% bei den über 90-jährigen. Allein in Deutschland gibt es heute über 1.5 Millionen Alzheimerpatienten- auch als Folge gestiegener Lebenserwartung!
1.3 Die Einsicht in die steigende Morbidität bei verbessertem Gesundheitssystem
spiegelt sich nicht zuletzt in der zunehmenden Zahl von Hochkosten-Patienten.
Darunter versteht man Intensivpflegefälle und Versicherte mit schweren chronischen Erkrankungen, aber auch Frühgeborene und Unfallopfer. Die durchschnittlichen Kosten für einen solchen Patienten liegen bei 130.000 – 150.000 Euro pro Jahr. Zahlt ein durchschnittlicher Beitragszahler inklusive der Arbeitgeberbeiträge jährlich 3000-5000 Euro in die Krankenkassen ein, dann entspricht die Belastung durch einen einzigen Hochkostenpatienten dem jährlichen Beitrag von 26 bis 50 Beitragszahlern!
2. Kernkriterien: Selbstbestimmung, Menschenwürde, Priorisierung
Es ist, so gesehen, eine Frage der Zeit, bis die Gesundheitskosten untragbar werden, weil sie schneller als Löhne und Gehälter wachsen. Unabhängig von der Frage der Gesundheitsfinanzierung wird daher die Frage auftauchen: Wie gehen wir mit der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch ältere und durch chronisch kranke Patienten um?
2.1 Entlastend wirkt hier ein gesellschaftlicher Umschwung, der in den nächsten Jahren noch an Fahrt gewinnen wird. Bedingt durch den hippokratischen Eid versuchen Ärzte nämlich bis heute im Regelfall, Leben maximal zu verlängern – auch dann, wenn dies weder im Interesse der Patienten noch von deren Angehörigen liegt. Patiententestamente sind eine selbstbestimmte Antwort auf diese Situation, die nicht einfach zu lösen ist. Schließlich darf kein Arzt ohne Zustimmung des Patienten auf lebensverlängernde Maßnahmen einfach verzichten.
Umgekehrt gibt es noch immer Situationen, in denen der tödliche Verlauf einer Krankheit sicher ist und in denen ein Mehr an Lebensqualität zugleich mit einem Mehr an Zuwendung, nicht mit einem Mehr an medizinischer Versorgung einher geht.
So sehr diese Ausrichtung an Menschenwürde und sozialem Zusammenhalt wünschenswert ist, so klar ist aber auch, dass nicht alle Menschen Familien haben, wo sie die letzten Tage verbringen können. Und es geht auch nicht immer um Krankheiten am Lebensende: Ein Unfalltrauma kann sich in jedem Lebensalter ereignen.
2.2 Wo aber liegt die Grenze für medizinische Höchstversorgung? Die Frage zu stellen, bedeutet, sich auf ein Minenfeld zu begeben. Jede Aussage zur Priorisierung von Gesundheitsleistung geht nämlich mit der Entscheidung einher, bestimmte Leistungen in definierten Lebenslagen nicht anzubieten. Dann werden solche Leistungen als Zusatzleistungen definiert und lediglich denen überlassen, die sich einen Mehraufwand leisten können und wollen.
In der Zahnmedizin ist dies bereits gängige Praxis. In vielen Fällen wird bereits heute ein medizinisch sinnvoller Aufwand von der Versichertengemeinschaft nicht mehr getragen. Umgekehrt verschreiben Onkologen heute durchschnittlich fast eine Million nur für Arzneimittel, die sehr wenigen Versicherten zugute kommen.
3. Generelle Leitlösung: Transparenz der Entscheidungsfindung
Das Grundproblem ist aber nicht die Priorisierung, sondern die Transparenz der Entscheidungsfindung. Wenn medizinische Dienstleistungen bezahlt werden müssen, stellt sich grundsätzlich die Frage: Wer zahlt was aus welchen Mitteln? Wird dieser offensichtliche Mechanismus verschleiert, steigert dies eher die Unzufriedenheit als die Zufriedenheit der Beteiligten.
3.1
Eine wirklich „richtige“ und „gerechte“ Lösung gibt es nämlich nicht.
Dafür sind zu viele Interessen im Spiel, und zu wenig klar sind allgemein anerkannte Gerechtigkeitsprinzipien in Gesundheitsfragen. Folglich hilft nur der Rückgriff auf die Verfahrensrationalität einer demokratisch legitimierten Mehrheitsentscheidung, etwa im Rahmen eines „Gesundheitsparlaments“.
Dessen Einrichtung und Besetzung könnte und müsste die wesentlichen Interessengruppen spiegeln. Sie dürfte weder allein Ärzte, noch alleine Patienten, Krankenkassen oder Politiker umfassen, sondern Vertreter aus all diesen Gruppen.
Werden regionale „Gesundheitsparlamente“ eingeführt, die sich in ihren Entscheidungen auch voneinander unterscheiden dürften, dann würde es möglich, auf die unterschiedliche Verbreitung von Erkrankungen regional differenziert einzugehen. Gleichzeitig gäbe es eine statistische Evidenz zu den positiven oder negativen Folgen der Zulassung von Gesundheitsleistungen. Es würde klar unterschieden zwischen denen, die allgemein erstattungsfähig und denen, die privat bezahlt werden müssten. Hinzu käme, dass „Zuzahlungsleistungen“ zum Gegenstand von Versicherungen würden, die die Mehrkosten für den einzelnen überschaubar gestalten würden.
3.2 Solche Versicherungslösungen entsprechen aber grundsätzlich auch dem Gedanken der Selbstverantwortung und der Gerechtigkeit- denn die persönliche Entscheidung einer Familie, lieber eine Zusatzversicherung zu bezahlen als einen Skiurlaub zu buchen, darf und kann sich dann auch in einer besseren Betreuung im „Versicherungsfall“ spiegeln.
3.3 Wahr ist freilich auch, dass für die unteren 20% der Einkommensverteilung weder der Skiurlaub noch die Zusatzversicherung in Frage kommen. Folge davon ist die bittere Einsicht, dass das Gesundheitssystem als solches nicht dafür geeignet ist, soziale Gerechtigkeit herzustellen.
3.4 Der demographische Wandel bietet, so gesehen, nicht nur Risiken, sondern auch Chancen. Je mehr Menschen bestimmte Alterskrankheiten erleben, desto intensiver wird auf den entsprechenden Gebieten geforscht- und desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Verlängerung kostbarer Lebenszeit.
Zu dieser objektiven Chance gesellt sich die Möglichkeit einer Vertiefung demokratischer Entwicklungen. Jede Familie muss für sich abwägen, was sie sich leisten kann; jede komplexe Gesellschaft ebenso. Regionale Gesundheitsparlamente bieten eine Chance für die Entfaltung der Bürgergesellschaft jenseits der etablierten Interessengruppen. Denn nur demokratisch legitimierte Institutionen können dem Auftrag gerecht werden, die Priorisierung von Gesundheitsleistungen öffentlich zu diskutieren und zu einer – immer auch revidierbaren- Entscheidung zu bringen.