Wer ist der natürliche Vertreter des Patienten als Gruppe, als Individuum, als Gesunder, Kranker und Zahler – eine Frage mit der sich Ulrich Hemel vom IfS auseinandersetzt?
Kaum ein Lebensbereich betrifft uns so unmittelbar persönlich wie die Gesundheit. Kaum ein Lebensbereich ist gleichzeitig so schwer zu durchdringen wie das Geflecht von Interessen, Gesetzen, Regulierungen, Instanzen und Institutionen wie das Gesundheitswesen. Dazu kommen Fragen, die als ethische Dilemmata zu erkennen sind: Darf man eine 92-jährige Demenzkranke künstlich ernähren? Wer hat das Recht, über eine solche Behandlung zu entscheiden oder in sie einzuwilligen?
Leitgedanke: Der Dilemmacharakter von Repräsentationsentscheidungen
Es lohnt sich, der Frage nach dem ethischen Dilemma der Vertretung eines Patienten nachzugehen. Zunächst wird jede gesunde Mensch einen Vorbehalt gegenüber jedweder Vertretung formulieren: Schließlich gehört es zu den unveräußerlichen Rechten jeder menschlichen Person, über sich selbst zu bestimmen.
Selbst beim gesunden Menschen gerät die Selbstbestimmung jedoch an Grenzen. Dies sind besipielsweise- wie in jedem Lebensbereich- Grenzen des Wissens. Wenn ich wissen will, ob ich einen juristischen Anspruch durchsetzen kann, bediene ich mich der Dienste eines Anwalts oder eines Gerichts. Ich kann dann zwar gegen den Rat des Anwalts handeln, muss dann aber auch für die Folgen einstehen. Folglich wirkt die Expertenmeinung in vielen Fällen als gestaltende, mit Einwilligung versehene Einschränkung der Selbstbestimmung.
Gleiches gilt für den Bereich der Gesundheit. Jeder Mensch hat unterschiedliche Interessen und Erfahrungen. Das Maß an gesundheitlicher Bildung ist daher sehr unterschiedlich; erst recht aber die Bandbreite praktizierter Lebensstile. Zur Selbstbestimmung gehört es dann zwar auch, sich möglicherweise zwei verschiedene Expertenmeinungen einzuholen. Auch im medizinischen Bereich aber gilt: Niemand ist Meister aller Fachrichtungen- wir sind auf das Hilfehandeln und den Expertenrat anderer angewiesen.
Das Dilemma entsteht selbst beim gesunden Menschen dort, wo die Experten ihrerseits unterschiedliche Meinungen hegen. Dies ist meistens nicht der Fall, kommt aber häufig genug vor, um Menschen vor Entscheidungsprobleme zu stellen. So hatte ein 60-jähriger Unternehmer ein Blutgerinnsel im Auge. Er informierte sich sorgfältig und stand vor der Wahl: Operieren oder nicht. Schließlich entschied er sich für einen operativen Eingriff und war entsetzt, als er aufgrund seiner intensiven Recherche erfuhr, wie unterschiedlich die möglichen medizinischen Verfahren sind. Er traf dann eine für ihn rationale Entscheidung und konnte nach kurzer Zeit die volle Funktionsfähigkeit des Auges wieder gewinnen.
So beschrieben, handelt es sich fast um einen Idealfall. Er beschreibt dennoch sehr klar die individuelle Komponente des Entscheidungsdilemmas im Gesundheitswesen. Diese ist nämlich durch mindestens drei Bestandteile charakterisiert:
1. Ein zu lösendes medizinisches Problem
2. Unterschiedliche Meinungen oder Lösungsvorschläge von Experten
3. Schwierigkeiten der praktischen Entscheidungsfindung
Der dritte Punkt wird regelmäßig übersehen und unterschätzt. Er hat nämlich mit Expertenwissen zur Entscheidungsfindung zu tun, nicht direkt mit Expertenwissen zum Gesundheitswesen. Die Suche nach einem solchen „Expertenwissen zur Entscheidungsfindung“ führt uns in den Bereich der Ethik, der Philosophie, der Religion. In unserer Gesellschaft gelten diese Gebiete zwar als individuelle Tabuzonen. Übersehen wird dabei, dass es für den Bereich der Entscheidungsfindung sehr wohl handwerkliche Regeln gibt, die sozusagen interdisziplinär gültig sind. Ein Beispiel dafür ist die Praxis der Güterabwägung, bei denen es um die Bewertung des höheren Guts oder des geringeren Übels geht.
Verschärft wird das Dilemma der Entscheidungsfindung überall dort, wo eine soziale Problematik und Fragen der Verteilungsgerechtigkeit hineinspielen, etwa beim Zugang zu medizinischen Leistungen, bei Entscheidungen über Erstattungsfähigkeit, Beitragshöhe und Beitragsstruktur.
2. Kernkriterien für die Bestimmung des natürlichen Vertreter des Patienten: Selbstbestimmung, Legitimation, Repräsentation
Unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten stehen aber auch bei kollektiven Entscheidungsdilemmata die Kernkriterien Selbstbestimmung und Legitimation im Vordergrund. Bei der einzelnen Person, die sich für oder gegen eine Operation entscheidet, fallen beide Kriterien zusammen: Selbstbestimmung sagt ja geradezu aus, dass jede Person letztinstanzlich für sich selbst zu finalen Entscheidungen legitimiert ist.
Die Legitimation wird im Gesundheitswesen jedoch problematisch, wenn eine Person nicht oder nicht mehr fähig ist, sich selbst gültig und vernehmlich zu äußern, ob nach einem Unfall oder im Fall einer Demenz. Hier gibt es zwar gesetzliche Vertretungsregeln, etwa bei einer Vorsorgevollmacht, bei der Interpretation des Patientenwunsches durch nahe Angehörige oder bei den Berufsregeln für die behandelnden Ärzte. Klar ist aber auch, dass es hier zu Konflikten, zumindest zu Meinungsverschiedenheiten der Auslegung, kommen kann.
Ein zweites Legitimationsproblem ergibt sich aus der Notwendigkeit zu kollektiven Entscheidungen. Hier entscheiden nicht physische Personen für andere, benennbare physische Personen in einer konkreten Situation. Vielmehr geht es um Erwägungen, die zu Entscheidungen für eine Gesamtheit von Gesunden, Kranken, Experten und sonstigen Mitspielern gelten sollen. Legitimation kommt hier durch Repräsentation zustande.
Dies ist verfahrensrational nachvollziehbar, aber immer auch unbefriedigend. Nicht jeder interessiert sich für die Sozialwahlen. Und es fühlt sich auch nicht jeder Arzt gut durch seine Ärztekammer repräsentiert. Dies liegt nicht nur daran, dass Repräsentation im demokratischen Gemeinwesen bei Wahlen Gewinner und Verlierer hervor bringt, sondern auch an der ungeheuren Komplexität des Gesundheitssystems mit seinen teilweisen absurden bis skurrilen Einzelfällen. Manch ein Arzt und manch ein Patient weiss dann zwar, dass das ihn vertretende Gremium demokratisch legitimiert ist. Repräsentiert fühlt er sich aber nicht!
Umgekehrt haben sich für bestimmte Beeinträchtigungen und Krankheiten Selbsthilfegruppen herausgebildet, die sich auf den Weg zu einer eigenen Meinung machen. Dies ist aus demokratischer Sicht sehr zu begrüßen. Andererseits sind solche Privatinitiativen zwar wichtige Stimmen und Mitspieler im Gesundheitswesen. Sie leiden aber unter einem Mangel an verfahrensrationaler Legitimation. Paradoxerweise kommt es hier zu einem umgekehrten Ergebnis: Beteiligte Personen fühlen sich nicht selten bei solchen Gruppierungen gut repräsentiert, auch wenn ihnen der Mangel an formeller Legitimation bewusst ist.
Nun könnte man den Schluss ziehen, dass es immer wieder um die Balance zwischen den Interessen des Individuums und der Solidargemeinschaft der Versicherten in ihren vielfältigen institutionellen Spiegelungen geht. Dies ist auch richtig und bestätigt die Einsicht, dass Notlösungen besser sind als gar keine Lösungen- eine konkrete Hilfestellung beim Ringen um den richtigen Weg ist diese Einsicht aber nicht.
Leitlösung: Persönliche Gesundheitsberater und die Balance aus Personalität und Subsidiarität
Sucht man nach einer gerechtigkeitsbasierten Leitlösung für die Frage, wer Patienten vertritt, ist es hilfreich, den Blick radikal auf den Patienten in seiner persönlichen Situation zu lenken. Zu den Prinzipien der Sozialethik gehört ja nicht zuletzt die Personalität von Entscheidungen, die mit der Leitidee der Selbstbestimmung korreliert ist.
Selbstbestimmung findet in externer Legitimation und Repräsentation dort eine Grenze, wo die einzelne Person überfordert ist. Dies darf aber nicht zur Aushöhlung der Personalität führen. Viel mehr geht es bei institutionellen Entscheidungsansätzen grundsätzlich um eine subsidiäre Funktion zur persönlichen Entscheidung, zur Selbstbestimmung des Patienten im wörtlichen Sinn. Wenn dies so ist, müssen alle Lösungen zu Entscheidungen im Gesundheitswesen Maß nehmen am Kriterium, wie weit sie subsidiär die Personalität von Entscheidungen fördern.
Dabei lohnt es sich, auf das eingangs beschriebene Entscheidungsdilemma zurück zu kommen. Es ist durchaus bekannt, dass die Güterabwägung, die sich für das höchste Gut und hilfsweise für das geringste Übel entscheidet, als Königsweg der ethischen Problemlösung gelten kann. Was allgemein richtig ist, ist aber nicht immer leicht in die Praxis umzusetzen.
Stellt man die Frage, welche subsidiären Vermittlungsinstanzen möglich wären, um einzelnen Personen zu ihrer Selbstbestimmung im Gesundheitswesen zu verhelfen, kommen wir rasch zum Gedanken der Spezialisierung, der Arbeits- und Rollenteilung in der modernen Gesellschaft. Zunächst denken wir hier an die professionellen Akteure wie Ärzte, Pflegepersonal, Physiotherapeuten, Apotheker und viele mehr.
Diese handeln aber entweder aufgrund ihres speziellen Berufscodes oder ihrer Rolle in den verbandlichen und sonstigen institutionellen Strukturen des Gesundheitswesens. Umgekehrt gibt es niemand, der sich speziell darauf spezialisiert, den Patienten als ganze Person ins Auge zu nehmen und ihm subsidiär bei seinen persönlichen Entscheidungen zu helfen, ohne unmittelbarer Akteur zu sein.
In den Blick zu nehmen wären hier ausgebildete Spezialisten für die individuelle Entscheidungsfindung im Gesundheitswesen, die als Gesundheitsberater direkt und unmittelbar für einzelne Personen tätig werden können. Sie hätten die Aufgabe, die einzelnen Patienten mit Rat und Tat in ihren individuellen Entscheidungssituationen beizustehen, ohne selbst „Partei“ im Sinn einer Krankenkasse, eines Arztes oder anderer Beteiligter zu sein.
Ob solche Gesundheitsberater kommunal, privat oder über das Gesundheitswesen insgesamt finanziert würden, muss öffentlich diskutiert werden. Es besteht jedenfalls die begründete Aussicht, dass solche Personen eine wichtige Scharnierfunktion für die subsidiäre Unterstützung von Patientinnen und Patienten leisten könnten, deren positive Folgen auch finanziell rechenbar sein dürften. -Über institutionelle Vertretungsregeln hinaus bis hin zur Gesetzgebung des Bundestags wäre dadurch ein Weg gefunden, nicht nur Repräsentation und Legitimation, sondern auch die unmittelbare Personalität von Entscheidungen der direkte Betroffenen im Gesundheitswesen zu stärken.