Gesundheit und Krankheit

Gesundheit und Krankheit werden häufig in einem Atemzug genannt. Doch, was ist Gesundheit? Was ist Krankheit? Von der Defizit- zur Kompetenzorientierung, Gedanken von Ulrich Hemel.

Die Definition der Weltgesundheitsorganisation beschreibt Gesundheit als

„Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur(als) das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“

Solche Definitionen von Gesundheit und Krankheit kommen nicht zufällig in die Welt, sondern sind Ausdruck einer Mentalität, die den Menschen als den vollkommenen Menschen sehen will. Ein solches Ideal führt allerdings zum Vorherrschen einer Defizitbetrachtung: Die Suche nach Funktionsstörungen steht im Vordergrund. Folglich heißt es bei manchen Medizinern scherzhaft, es gebe gar keine gesunden, sondern höchstens zu wenig untersuchte Menschen!
Selbst die polare Betrachtungsweise „hier Gesundheit, dort Krankheit“ lässt außer acht, dass es in den verschiedenen Kulturen und im Lauf der Geschichte höchst unterschiedliche Beschreibungen für die physische und psychische Integrität gegeben hat. Noch heute ist es so, dass „Behinderung“ quer zu den Begriffen Gesundheit und Krankheit liegt: denn ein Behinderter ist definitionsgemäß zwar nicht gesund, aber auch nicht krank. Zur Krankheit gehört nämlich die Möglichkeit der Heilung. Behinderte Menschen wissen aber, dass bestimmte Funktionsausfälle nicht heilbar sind.
Darüber hinaus können religiöse und magische Beschreibungen sich der Polarität von Gesundheit und Krankheit entziehen. In vielen Religionen wird von „Besessenheit“ berichtet; in nicht wenigen Kulturen gibt es bis heute eine Tradition der „Hexerei“, des „bösen Blicks“, aber auch der „Geistheilung“, des „Schamanentums“ und dergleichen. In unserer Kultur und Zeit würde man hier eher vom Formenkreis der psychopathologischen Störung sprechen- damit aber das Selbstverständnis solcher Menschen nicht treffen.

Gesundheit und Krankheit im Bann von Vollkommenheit und Funktionalität

Diese Überlegungen zeigen: Gesundheit und Krankheit sind zeitabhängigen Bildern unterworfen, denen wir uns kulturell nicht ohne weiteres entziehen und die sich im Lauf der Zeit ändern können. So wurden selbst in Deutschland vor dem I.Weltkrieg Pazifisten wegen Geisteskrankheit behandelt!
Die großen Fortschritte von Medizin, Pharmazie und Biotechnologie haben dazu geführt, Gesundheit als „herstellbar“ anzusehen. Wird eine Krankheit entdeckt, dann ist unsere Haltung zu ihr ähnlich wie gegenüber einem kaputten Auto: Durch kompetente Reparatur wird der Defekt beseitigt und Funktionstüchtigkeit wieder hergestellt.
Die kulturelle Schwierigkeit und die psychische Zumutung in einem solchen Begriff von Gesundheit und Krankheit liegen darin, dass eine solche technische Betrachtung von der Individualität und Personalität des betroffenen Patienten abstrahiert. Von Ausnahmen abgesehen spielt weder die Lebensgeschichte noch die Lebenserfahrung des kranken Menschen eine Rolle. Diese sind gegenüber dem Ideal der Funktionsfähigkeit- und damit des vollkommenen Apparats- nebensächlich.
Eine positive Wirkung dieses Ansatzes liegt im unglaublichen Fortschritt der Medizin in den letzten 100 Jahren. Aber wie so oft gesellen sich zu den Wirkungen auch die Nebenwirkungen: Eine auf vollkommene Funktionstüchtigkeit zielende Medizin muss die Behinderung und schon die natürliche Alterung des Menschen als Niederlage ansehen. Sie kann dann aber gar nicht vermeiden, dass chronisch kranke, behinderte und alte Menschen vor sich selbst ein negatives, an Defiziten orientiertes Selbstbild entwickeln, welches ihnen von ihren Mitmenschen nur allzu leicht bestätigt wird.
An dieser Stelle wendet sich eine funktions- und defizitorientierte Medizin gegen elementare Ansprüche der Menschlichkeit. Denn auch der sehr junge und der sehr alte, der stark behinderte und der chronisch kranke Mensch sind zu 100% Menschen; sie sind in ihrer Funktionstüchtigkeit und Gesundheit, nicht aber in ihrer Menschenwürde und ihrem Menschsein beeinträchtigt. Wer vollkommene Funktionstüchtigkeit sucht, entwickelt allzu leicht ein defizitorientiertes und weniger ein kompetenzorientiertes Menschenbild.
Noch mehr: Zum Menschsein gehört es, mit Grenzen umzugehen und sich der eigenen Bedürftigkeit bewusst zu werden. Menschen sind vom Grundsatz her nicht vollkommen, sondern eingeschränkt und begrenzt- materiell, geistig, seelisch und manchmal auch gesundheitlich.

Die Sehnsucht nach einem ganzheitlichen Verständnis von Gesundheit und Krankheit

Nun wird niemand hinter den Stand heutiger medizinischer Erkenntnisse zurückfallen wollen. Es bleibt aber die wesentliche Aufgabe der Balance, vielleicht auch des Spagats zwischen spezialisierter Funktionsbetrachtung und der Sichtweise auf den ganzen Menschen.
Die Besonderheit des deutschen Gesundheitswesens mit der Rollenteilung zwischen Hausarzt und Facharzt könnte hier wegweisend sein- jedenfalls wenn ihr gesundheitspolitischer Wert neu beleuchtet wird. Da die Abrechnungssysteme im Gesundheitswesen ganzheitliche Zuwendung, d.h. die Beachtung des gesamten Lebenszusammenhangs bei einem kranken Menschen, nicht würdigen, wird der Hausarztberuf jedoch zunehmend weniger attraktiv. Funktionstüchtigkeit und „Vollkommenheit“ steht im Vordergrund, nicht die Betrachtung des „ganzen Menschen“. Hier ist es Aufgabe der Gesellschaft, auf ihre Politiker einzuwirken, um hier eine Trendumkehr auch in Richtung der Förderung von Hausärzten zu bewirken, damit deren Würdigung des kompletten Lebenszusammenhangs auch finanziell besser vergütet wird.
Denn die Sehnsucht nach einem ganzheitlichen Verständnis von Gesundheit und Krankheit ist ein starker Antrieb, von dem u.a. Psychosomatiker, Heilpraktiker, aber auch Esoteriker und Vertreter der vielen Spielformen des Aberglaubens profitieren. Wenn belastende berufliche Bedingungen oder schwierige private Umstände sich letzten Endes in Krankheitsbildern ausdrücken, dann gilt es, die Sprache des Körpers in vielen Fällen als Wortmeldung der Seele wahrzunehmen.
Gesundheit hat dann wieder mit der ganzen Person zu tun, ihren Erlebnissen und Nöten, ihren Sorgen und Hoffnungen. Dazu kann es auch gehören, in realistischer Einschätzung vor sich selbst anzuerkennen, dass bestimmte Funktionen dauerhaft geschädigt sein oder ausfallen können. Zur Gesundheit einer Gesellschaft gehört es dann, Lebensfreude und Anerkennung auch in solchen Situationen zu ermöglichen und die (noch) vorhandenen Kompetenzen anzuerkennen und zu fördern- nicht zuletzt durch eine Arzt-Patienten-Interaktion, die auf wechselseitiger Achtung, nicht auf wechselseitiger Verdächtigung basiert.

Das Wechselverhältnis von Gesundheit und Kultur

Wie stark selbst bei vergleichbaren Entwicklungsständen moderner Gesellschaften Gesundheit und Krankheit von ihrer Umgebungskultur abhängig sind, zeigen einige statistische Auffälligkeiten: So entfallen in Italien von 100 Geburten 32 auf einen Kaiserschnitt; in Deutschland 21, in Luxemburg 2. Diabetes trifft in Malta 6,6% der Bevölkerung, in Island 0.2%. In Litauen gibt es 44 Selbstmorde pro 100.000 Einwohner, in Deutschland 12 und in Armenien 2. Brustkrebs trifft 38 von 100.000 Frauen in Belgien, aber nur 23 Frauen von 100.000 in Spanien (Atlas of Health in Europe, 2003). Gesundheit und Krankheit sind also faktisch auch abhängig von kulturellen Lebens- und Deutungsmustern.
Sie sind sogar ohne kulturellen und persönlichen Kontext gar nicht zu verstehen. Wo sich ein ganzheitliches Verständnis Bahn bricht, wird heute immer stärker auf Risiko- und Schutzfaktoren für Gesundheit und Krankheit geachtet. Werden positive Schutzfaktoren gefördert, wirkt sich dies auf die Gesundheit aus, ob es nun um Arbeitsschutz, um Unfallprävention, um soziale und psychische oder um sonstige Faktoren geht. Umgekehrt wird das Auftreten von Krankheiten dort abnehmen, wo erkennbare Risiken beseitigt oder vermindert werden. Wer nach Gesundheit oder Krankheit fragt, wird gut daran tun, die individuelle und die kulturelle ebenso wie die soziale und politische Ebene aktiv in die Betrachtung einzubeziehen.
Ein umfassendes und eben ganzheitliches Bild von Gesundheit und Krankheit wird daher subjektive und objektivierende oder reproduzierbare Befunde gleichermaßen in den Blick nehmen. Dabei geht es einerseits um die Funktionstüchtigkeit und Leistungsfähigkeit der betroffenen Menschen, andererseits aber auch um die Förderung vorhandener und bleibender Kompetenzen trotz der behutsamen Einsicht in die Endlichkeit und Begrenztheit von gesundheitsfokussiertem Handeln bei Ärzten, Patienten und allen, die mit dem Gesundheitssystem zu tun haben. Nur dann kann die Balance zwischen nüchterner Sachkunde und empathischer Hinwendung zur einzelnen Person gelingen, die dem Ideal einer „Medizin in Balance“ entsprechen könnte. Weder Schicksalsergebenheit noch Hybris, sondern der nüchterne Realismus und die Einsicht in das Machbare stehen dann im Vordergrund. Gleichzeitig wird der Patient in seiner Mitwirkung (oder „Compliance“) gefördert, weil er nicht passiv Gegenstand einer Reparaturhandlung, sondern aktiv der Steuermann und Kapitän des eigenen Gesundheitsschiffes wird. Dies bedeutet letztlich eine ressourcen- und kompetenzorientierte Einstellung zu Gesundheit und Krankheit. Sie zu erringen, ist Aufgabe einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion.
Der „mündige Patient“ verliert sich dann nicht in billigem Misstrauen gegenüber Ärzten und „Gesundheitswesen“, sondern weiß um die Chance, die in seiner aktiven Beteiligung bei der Überwindung von Krankheiten liegt. Der am Menschen orientierte Akteur im Gesundheitswesen wird sich nicht von Aus-, Fort- und Weiterbildung dispensieren, sondern das höchst mögliche Maß an Sachkunde mit dem interessierten Blick auf den ganzen Menschen verbinden- diesseits und jenseits von Gesundheits- und Krankheitszuständen. Institutionell kann im Blick auf diese Zusammenhänge nur dringend angeraten werden, von der Defizitorientierung zur Kompetenzorientierung zu kommen- nicht zuletzt durch die Förderung von Hausärzten als Lotsen im Gesundheitssystem.

LITERATUR zum Beitrag Gesundheit und Krankheit

-G.H.Brundtland (Hrsg.): Grundrecht Gesundheit. Vision: Mehr Lebensqualität für alle. Frankfurt: Campus, Frankfurt 2000.
-M.Hafen, Mythologie der Gesundheit – zur Integration von Salutogenese und Pathogenese. Heidelberg: Carl Auer-Systeme-Verlag, Heidelberg 2007.
– A. Mielck, Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Einführung in die aktuelle Diskussion, Bern 2005
-I. Seiffge-Krenke: Gesundheit als aktiver Gestaltungsprozess im menschlichen Lebenslauf, in: Rolf Oerter, Leo Montada (Hrsg.). Entwicklungspsychologie, 4.Aufl. Weinheim 1998
-WHO, Atlas of Health in Europe, Kopenhagen 2003

22.1.2011

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