Brauchen wir eine gesellschaftspolitische Diskussion für die Gestaltung des Gesundheitssystems- und wenn ja, welche? Ein Beitrag von Ulrich Hemel.
Gesundheit geht alle an. Und ein alter Rechtsgrundsatz besagt: Was alle angeht, soll auch von allen erörtert werden. Wie aber soll dies möglich sein, wenn es um Millionen von Fallgestaltungen und unzählige Einzelmeinungen geht? Ist es nicht besser, komplexe Sachverhalte durch anerkannte Experten klären zu lassen, die aufgrund ihres speziellen Sachverstands dazu als legitimiert gelten können?
Leitgedanke: Das Dilemma zwischen technokratischen Expertenlösungen und breit aufgestellter Beteiligungsgerechtigkeit
Tatsächlich zeichnet sich das Gesundheitssystem in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, durch Züge einer fortgeschrittenen Expertokratie aus. Es ist auch völlig einsichtig, dass sich die meisten Menschen nicht für Detailregelungen zur Kostenübernahme, zur Leistungsdefinition und zu Berechtigungsnachweisen für die Behandlung bestimmte Krankheitsbilder interessieren. Es gehört nachweislich zu den entlastenden Funktionen moderner Großgesellschaften, den einzelnen Menschen institutionelle Leitplanken an die Hand zu geben, die nicht nur, aber auch entlastend wirken.
Die andere Seite dieser Münze ist die klassische Frage nach Beteiligungsgerechtigkeit. Dabei geht es nicht nur darum, dass Experten irgendwann ihre Wahrnehmung und ihren Beurteilungsstandpunkt ganz überwiegend aus ihrer eigenen Expertenwelt beziehen. Vielmehr ist zu bedenken, dass der persönliche Gesundheitszustand jedes einzelnen Menschen so tief in sein Lebensschicksal eingreift, dass eine fraglose Hinnahme von Expertenentscheidungen letztendlich Züge einer Gängelung, einer Einschränkung der Selbstbestimmung, ja einer unangemessenen Bevormundung erhalten kann.
Eine gesellschaftspolitische Diskussion ist notwendig
Die Suche nach Beteiligungsgerechtigkeit kann und darf das Fachwissen der zahlreichen Experten für spezielle gesundheitliche Fragestellungen nicht durch basisdemokratische Entscheidungen ad absurdum führen. Wahr ist aber auch, dass die grundsätzlichen Spielregeln des Gesundheitssystems einigen wenigen, allgemein einsichtigen Prinzipien folgen, die sehr wohl zum Gegenstand öffentlicher Diskussion werden können und auch sollen.
Dazu gehört u.a. die Frage nach dem Zugang zu Gesundheitsleistungen. Soll er allen Menschen ohne Ansehen der Person gewährt werden? Wenn dies so wäre, wie sollten medizinische Spitzenleistungen honoriert werden? Wer wäre bereit, Innovation zu zahlen?
Oder geht es um einen „meritokratischen“ Ansatz in dem Sinn, dass gutes Geld auch gute medizinische Behandlung nach sich zieht? Vorteilhaft an diesem Ansatz wäre die Finanzierung medizinischer Spitzenleistung. Andererseits regt sich in Mitteleuropa ein Unbehagen gegenüber einem solchen Ansatz, weil die meisten Menschen davon überzeugt sind, dass der Zugang zu Gesundheitsleistungen nicht- oder jedenfalls nicht alleine- vom Geldbeutel, sondern von Prinzipien wie Menschenwürde, Gleichheit und Gerechtigkeit folgen sollte.
Kernkriterien: Partizipation als Leitmotiv der Gerechtigkeit
Wenn nach der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Diskussion gefragt wird, geht es also weder um Abrechnungsziffern noch um die Methodik der Behandlung eines Blinddarmdurchbruchs. Es geht vielmehr darum, im politischen Leben eines Landes die wesentlichen Alternativen in der Herangehensweise an das Gesundheitssystem öffentlich zu erörtern, gerade ohne sich hinter einem Übermaß an Fachbegriffen zu verstecken.
In diesem Sinn gehört es geradezu zur Identität und Grundgestalt eines demokratischen Gemeinwesens, dass über die Ausgestaltung des Gesundheitswesens immer wieder öffentlich diskutiert und auch kontrovers debattiert wird. Wenn ein schwieriges Thema wie die Spielregeln des Gesundheitswesens nicht durch öffentliche Debatten transparent gemacht wird, fehlt ein wichtiges Regulativ demokratischer Kontrolle: Die Teilhabe der Betroffenen an für sie wesentlichen Entscheidungen.
Aus Gerechtigkeitserwägungen heraus ist daher die Frage nach der Partizipation an Debatten und der Mitwirkung an der politischen Willensbildung zur Ausgestaltung des Gesundheitswesens unabweisbar. Dabei genügt es nicht, auf die alle vier Jahre stattfindenden Bundestagswahlen hinzuweisen. Vielmehr entwickelt sich das Gesundheitswesen so rasant, dass immer wieder neue Fragen gesellschaftlich diskutiert werden müssen- so etwa im Jahr 2011 die Frage nach der Präimplantationsdiagnostik.
Nun gibt es in einer Demokratie auch das Recht, an einer Debatte nicht teilzunehmen. Wer sich für ein demokratisches Gemeinwesen interessiert, sollte sich mit einer solchen Position allerdings nicht identifizieren, sondern eher nach den Ursachen einer solchen Position forschen. Sie hat häufig mit dem Gefühl zu tun, nichts beitragen zu können oder – anders ausgedrückt- kein Gehör zu finden. Anzusetzen wäre folglich bei Formen der Partizipation, bei denen die Hürden für eine aktive Beteiligung nicht so hoch liegen, dass sie die meisten Mitbürgerinnen und Mitbürger überfordert und frustriert.
Leitlösung: Den „Runden Tisch Gesundheit“ und andere Formen partizipativer Meinungsbildung fördern und ernst nehmen
Obwohl die Diskussionen rund um das Projekt „Stuttgart 21“ in mancherlei Hinsicht einen Sonderfall darstellen und auch noch nicht abgeschlossen sind, kann der Maßstab der Transparenz und der öffentlichen Beteiligung an der Schlichtung durch Heiner Geißler im Herbst 2010 als exemplarisch für Formen partizipativer Meinungsbildung gelten.
Dies soll und kann nicht bedeuten, dass Gesundheitsfragen grundsätzlich so stark emotionalisiert und politisiert werden sollten, dass solche Formen der großen medialen Aufmerksamkeit entstehen. Dennoch ist es ein demokratischer Imperativ, wesentliche Fragen der Leistungsfinanzierung, der Mittelallokation, der Ausgestaltung von Bonus- und Malusregeln, der Gestattung oder Nichtgestattung von Behandlungsmethoden in den Brennpunkt einer öffentlichen Debatte zu stellen.
Dies kann beispielsweise durch einen „Runden Tisch Gesundheit“ geschehen, der regelmäßig auf kommunaler Ebene tagt.
Denn die kommunale Ebene ist diejenige, die für die meisten Menschen sichtbar und erlebbar ist. Wenn in einem Ort mit 10.000 Einwohnern ein Krankenhaus geschlossen werden muss oder im Ortskern ein Wohnheim für psychisch beeinträchtigte Menschen eröffnet werden soll, führt dies zu lebhaften öffentlichen Debatten. Ein regelmäßiger kommunaler „Runder Tisch Gesundheit“ kann aber darüber hinaus die Weichen für die gesundheitliche Daseinsvorsorge einer ganzen Region stellen, etwa im Blick auf die Versorgung mit Ärzten und anderen medizinischen Leistungserbringern.
Formen partizipativer Meinungsbildung können und sollen aber über solche lokalen Phänomene hinaus gehen. Auf regionaler Ebene lassen sich beispielsweise Gesundheitsforen oder regionale Gesundheitsparlamente einrichten, die die jeweils aktuellen Themen der Gesundheitspolitik öffentlich und transparent zur Sprache bringen. Welche Forschungsmittel sollen beispielsweise für Aids, welche für Alzheimer, welche für Gefäßkrankheiten eingesetzt werden? Welche Bedeutung soll der Palliativmedizin beigelegt werden, wenn die kurative Medizin an die Grenze ihrer Möglichkeiten gelangt ist?
Diese und andere, für die Menschen wesentlichen gesundheitlichen Fragen müssen Gegenstand einer demokratischen Kultur der Meinungsbildung werden – eine gesellschaftspolitische Diskussion muss angestossen werden. Krankheit und Leid lassen sich zwar durch solche öffentlichen Debatten nicht verhindern. Dennoch kann und soll es zu den Leitbildern einer offenen Gesellschaft gehören, auch schwierige Gesundheitsfragen nicht alleine den Experten zu überlassen, sondern sie in ihren wesentlichen Implikationen auf den Marktplatz der Meinungen, der fachlichen und der politischen Positionen zu bringen.
Diese gesellschaftspolitische Diskussion wird es den Menschen auf Sicht auch leichter machen, einmal getroffene Entscheidungen nachzuvollziehen und mitzutragen- oder, falls erforderlich, neu zu diskutieren und im gemeinsamen Ringen um den besten Weg erneut zu verändern!