Innovationen im Gesundheitswesen sind in aller Munde, doch um was handelt es sich dabei? Gedanken von Ulrich Hemel.
Das Gesundheitswesen ist ein weites Feld mit Millionen Beschäftigten, die tagtäglich Ihre Kreativität und Intelligenz einbringen, um zu helfen, zu pflegen, zu heilen, aber auch um zu produzieren, zu forschen und zu verwalten. Neue Behandlungsmethoden, neue Arzneimittel, neuartige Implantate oder medizintechnische Geräte, aber auch die Anwendung neuartiger wissenschaftlicher Erkenntnisse wie etwa in der Kernspintomographie bezeichnen nur ansatzweise die Vielfalt dessen, was unter dem Begriff der Innovation im Gesundheitswesen zur Debatte steht.
1. Leitgedanke: Der Begriff „Innovationen im Gesundheitswesen“ muss weit gefasst werden
1.1 Innovationen sind von Phantasie, Idee und Kreativität abzugrenzen. Kreativität könnte man als neue Ideen bezeichnen, die umgesetzt werden (Invention) und dann mittels Diffusion durch den Markt angenommen und damit zur Innovation werden. Innovation ist also Annahme durch den Gesundheitsmarkt bzw. deren Teilnehmer.
1.2. Innovation wird nicht ausschließlich als Produktinnovation verstanden. Unter Prozessinnovationen versteht man die Entwicklung neuer Verfahren oder verbesserter Abläufe zum Beispiel in der Versorgung oder Produktanwendung. Gewöhnlich soll diese Innovationsart die Effizienz und Effektivität verbessern. Die Produktinnovation versteht sich- beispielsweise in der Pharmaindustrie- nicht auf die reine Substanz oder Software in der Medizintechnik bezogen, sondern auf die gesamte „Anwendungs-Einheit“ incl. Packung, Farbe, Galenik mit den Innovationsvorteilen Lagerbarkeit, Stapelbarkeit, Schluckbarkeit usw.
1.5 Neben dieser Ordnung von Innovationen unterscheidet man auch die Kopierinnovation (also von anderen schnell zu kopieren), wie ein neuer Blister, der nicht patentgeschützt ist aber dennoch eine Innovation darstellen kann. Die nächste Stufe bezeichnen wir als Optimierungs- oder Schrittinnovationen, die zur einfachen Verbesserung geeignet ist. Die Durchbruchsinnovationen stellen einen besonderen Fall dar. Sie führen zu einem sprunghaften Fortschritt und sind häufig in der Einführung mit Unsicherheiten in der Bewertung verbunden. Sie kann nur zum Optimum geführt werden, wenn diese frühzeitig diffundiert, um in der breiten Einsatzphase weiter Verbesserungen zu erhalten.
1.3. Das ”Tun neuer Dinge“ oder das „Anders Tun“ von Dingen, die bereits getan wurden, ist der Ausgangspunkt für die Verbesserung im Wettbewerb. Nachdem die Innovation möglichst gezielt auf den Gesundheitsmarkt gebracht worden ist, wird diese Neuerung nach entsprechenden Regularien (wie z.B. Patentschutz) von anderen nachgeahmt. Es kommt zu einem Anpassungsprozess, bis sich ein Gleichgewicht der Kräfte auf einem höheren Niveau eingestellt hat, so dass erneut Innovationen benötigt werden, um weiteren Fortschritt zu erzielen.
In modernen Gesundheitswesen sind Innovationen ein unabdingbares Überlebensprinzip. Wer nicht auf Innovationen setzt, wird sich als Marktteilnehmer auf Dauer im Gesundheitsmarkt nicht behaupten können.
1.6 Nun gibt es im Gesundheitswesen aber nicht nur die Anbieterseite. Vergessen wird oft, dass Veränderungen im Gesundheitswesen auch die Folge politischer und sozialer Innovationen sein kann. Die Einführung der Krankenversicherung durch Bismarck im 19.Jahrhundert ist ebenso ein Beispiel dafür wie die Einführung der Pflegeversicherung im 20.Jahrhundert. Gegenwärtig wird unter dem Stichwort der „Ambulantisierung“ und der „Sozialraumorientierung“ nach Mitteln und Wegen gesucht, damit pflegebedürftige Menschen ausreichende Unterstützung erhalten, um ohne „Umzug“ in ein Pflegeheim in ihren gewohnten Bezügen bleiben zu können. Auch dies ist unter dem Strich eine „Innovation“ im Gesundheitswesen!
2. Kernkriterien: Ganzheitliche Nutzenbewertung
Bei dieser Argumentation taucht sofort die Frage auf: Welchen Nutzen muss eine Innovation im Gesundheitswesen eigentlich leisten? Und wer erkennt Innovationen als Innovationen an?
2.1 Als Ignaz Semmelweis durch Maßnahmen der Hygiene das Kindbettfieber bei gebärenden Müttern drastisch senken konnte, war diese Maßnahme extrem segensreich und auch innovativ. Als Innovation ging es hier um die Kombination aus der Anwendung einer wissenschaftlichen Erkenntnis mit einer praktisch-pflegerischen Maßnahme.
Heute denken wir hingegen eher an die Blockbuster der Zukunft, also neue Arzneimittel mit einem Umsatzpotenzial von über 1 Milliarde Dollar weltweit. Damit wird Innovation mental auf den wichtigen, aber nicht isolierten Bereich der forschenden Arzneimittel beschränkt. Außerdem entsteht der Eindruck, Innovation im Gesundheitswesen sei grundsätzlich sehr kostspielig.
Die Beispiele „Pflegeversicherung“ und „Kindbettfieber“ zeigen aber, dass dies nicht immer der Fall sein muss. Es spricht sogar sehr viel dafür, dass gerade die Kombination von wissenschaftlich-technischen und sozialen oder politischen Maßnahmen erheblich zur Lebensqualität beitragen können – jedenfalls wenn man diese am Maß des subjektiven Wohlbefindens, an der Lebensdauer und am Überwinden von messbaren körperlichen Funktionseinschränkungen misst.
2.2 Wenn das zentrale Kriterium für die Bewertung von Innovationen „Lebensqualität“ sein soll, wird es nötig, diesen Begriff im genannten Sinn mit Leben zu füllen. Die Bewertung von Innovation geht dann über Wirkungen auf die Zelle oder Kosteneinsparungen im Prozess hinaus und benötigt ein akzeptiertes ganzheitliches und nachhaltiges Bewertungsraster.
Gleichzeitig werden dann Verfahren benötigt, die eine Entscheidung über die Zulassung von Innovationen erlauben.
3. Generelle Leitlösung: Umfassendere Bedeutungsbewertung und politische Förderung von Vielfalt
3.1 .Wenn es beispielsweise um neue Arzneimittel geht, so bestehen aufwändige Regeln für den Nachweis ihrer Sicherheit und ihrer Wirksamkeit. Dies ist schon deshalb notwendig, weil unerwünschte Nebenwirkungen nach Möglichkeit ausgeschlossen werden sollen. Die Missbildungen nach der Einnahme von Contergan während der Schwangerschaft sind ein warnendes Beispiel für die Gefahren einer mangelnden Beachtung solcher Regeln.
Die Anwendung von Gerechtigkeitskriterien muss jedoch über Sicherheit und Wirksamkeit hinausgehen. Was sicher und wirksam ist, muss noch lange keinen besonderen Innovationsgrad oder eine besondere gesundheitspolitische Bedeutung aufweisen. Eine Sache ist ja die Zulassung eines Arzneimittels, eine andere die Koppelung der Zulassung mit der Erstattung durch die Krankenkassen oder das Gesundheitssystem. Hier fehlt es nach heutigem Stand an einer Priorisierung im Blick auf Fragen der Gerechtigkeit.
3.2 Dabei gerät der Begriff der Gerechtigkeit an eine enge Grenze. Menschliches Leiden ist von Haus aus weder gerecht noch gerecht verteilt. Und jedes Leid ist echtes Leid.
Gehen wir aber von der Gleichheit der Menschenwürde jeder menschlichen Person aus, dann dürfen und müssen gesundheitsstatistische Überlegungen sehr wohl auch Entscheidungen über Kosten im Gesundheitswesen nach sich ziehen. Innovationen im Gesundheitswesen stehen immer auch in Konkurrenz um die Zuweisung stets knapper Mittel. Gesucht wird folglich ein Verfahren, die „Bedeutung“ einer Innovation im Raum politischer und gesundheitswirtschaftlicher Gestaltung besser als bisher zu erfassen.
3.3. Ein zweistufiges Verfahren zur Einführung von Innovationen im Gesundheitswesen könnte dabei hilfreich im Sinne der Gerechtigkeit durch Partizipation sein. Absolut gerechte Verfahren wird es dabei nicht geben, aber sehr wohl ein geringeres oder höheres Maß an Rationalität. Dazu gehört es beispielsweise, die Erstattung von Innovationen in zwei Phasen vorzunehmen: Vorläufig und „ad experimentum“ in Phase I und bis auf Widerruf in Phase II.
Gestattet der Gesetzgeber nämlich jeder Krankenkasse und jedem Kostenträger im Rahmen eines gegebenen Budgets eine bestimmte Anzahl von Zulassungen „ad experimentum“, dann führt dies zu internen Überlegungen in den jeweiligen Organisationen, mit welcher Innovation sie ihr eigenes Profil stärken können.
Die soziale Bedeutung einer Innovation kann sich dann beispielsweise daran messen lassen, wie viele Krankenkassen sie schon in der vorläufigen Phase als wesentlich genug erachten, in ein Erstattungsprogramm aufgenommen zu werden.
3.3 Es ist in diesem Zusammenhang durchaus möglich, dass Regeln aufgestellt werden, die für ein differenziertes Vorgehen sprechen: Beispielsweise kann eine Erstattung zur gesetzlichen Pflicht dann werden, wenn mehr als die Hälfte der Kassen dies nach einer Vorlaufphase beantragen. Umgekehrt lässt sich gut untersuchen, welche Innovationen letztlich keinen Durchbruch erzielen konnten. Für die Gesundheitswirkungsforschung ergäben sich neue, fruchtbare Anwendungsbereiche!
3.4. Für Durchbruchsinnovationen in der Frühphase lassen sich Solidarität und Gerechtigkeit auch dadurch ordnen, dass diese für eine definierte „Pionierzeit“ vom Staat eine Zusatzfinanzierung mit dem Ziel erhalten, die breite Forschung der Innovation voranzutreiben.
3.5 Der Preis für ein solches Verfahren ist die politische Toleranz, ja sogar die Förderung von Vielfalt. Dies bedeutet in der Folge eine individuelle Differenzierung des Leistungsangebots von Krankenkassen gemäß dem von Ihnen angestrebten Profil und im Rahmen aufzustellender Regeln.
3.6 Für Menschen, die schwierige Situationen durchleben, wäre dies eine hervorragende Nachricht – selbst wenn in diesem Zusammenhang ein neues Berufsbild auftauchen würde, um mit der Vielzahl an Informationen und Angeboten des Gesundheitswesens fertig zu werden: Der individuelle Gesundheitsberater. Das aber wäre eine andere Art sozialer und politischer Innovation im Gesundheitswesen!