Gesundheitssystem in Deutschland

Wie sich das Gesundheitssystem in Deutschland unter der Leitperspektive der Gerechtigkeit strukturell ändern müsste, von Ulrich Hemel.

Das Gesundheitssystem in Deutschland und sein Selbsverständnis

Das Gesundheitssystem in Deutschland versteht sich als Solidargemeinschaft, das jedem Menschen in Deutschland unter gegebenen Voraussetzungen offen steht. Die Leitperspektive der Gerechtigkeit eignet sich dazu, Anstöße für die Weiterentwicklung des bestehenden Systems zu geben. Voraussetzung dafür ist ein breit gefasster Inklusionsbegriff, der in der politischen Diskussion tendenziell sogar über die Versichertengemeinschaft hinaus geht und diejenigen Randgruppen erfasst, die auch im 21.Jahrhundert derzeit in Deutschland nicht im Genuss der Teilhabe an einem System der Krankenversicherung sind.

1. Wesentliche Werte: Menschenwürde, Verteilungs- und Beteiligungsgerechtigkeit

Gerechtigkeit steht als Wert nie für sich allein, sondern entfaltet sich im Spannungsfeld zwischen individueller und sozialer Gerechtigkeit, zwischen Verteilungs- und Beteiligungsgerechtigkeit.

Im Kontext einer demokratischen Gesellschaft sind Werte wie Menschenwürde, Selbstbestimmung, Personalität, demokratisch legitimierte Verfahren inklusive eines Diskriminierungsverbots von zentraler Bedeutung. Sie im Spannungsfeld transparenter Entscheidungsfindung und lobbyistischer Einflussnahmen zur Geltung zu bringen, ist und bleibt eine Herkulesaufgabe.

Der Chancen- und Prozessaspekt von Freiheit und Gerechtigkeit bedingt die stets neue Überprüfung eingeführter Verfahren auf ihre inhaltliche, prozessuale und demokratische Rationalität. Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen bedeutet hier vor allem der Kampf für einen offenen Zugang zu medizinischen Leistungen auf der Höhe der Zeit, dies aber auch unter Beachtung finanzieller Restriktionen.

Formen der Allokation, der Priorisierung und der Steuerung von Gesundheitsleistungen müssen dabei nicht ausgeschlossen werden. Legitimität gewinnen sie allerdings nur durch Verfahren, die repräsentativ, nachprüfbar und veränderbar sind.

Spitzenwerte für eine Weiterentwicklung des Gesundheitswesens sind im Interesse des größtmöglichen Nutzens für die einzelne Person die Werte der Personalität und der Subsidiarität. Sie bringen den Gerechtigkeitsaspekt der freien Selbstbestimmung größtmöglich zur Geltung.

2. Vorrang der Personalität

Gerechtigkeit als Leitmotiv muss an der Würde der einzelnen Person und ihrer Handlungsmöglichkeiten anknüpfen. Zum einen führt dies zu einem umfassenden Gesundheitsbegriffs, der über eine Funktions- und Defizitorientierung hinaus geht, der nicht gesundheitliche Defizite, sondern personelle Ressourcen und Kompetenzen in den Vordergrund stellt.

So gesehen, gehören die Förderung von Prävention und gesundheitlicher Bildung zu den vorrangigen Aufgaben der Umsetzung von Gerechtigkeitsaspekten im Gesundheitswesen.
In der Folge ist dem Prinzip der freien Arztwahl Rechnung zu tragen, einfach weil das Arzt-Patienten-Verhältnis zu den wesentlichen Erfolgsfaktoren medizinischer Behandlung gehört. Aus den gleichen Gründen empfiehlt sich die Stärkung von Hausärzten, aber auch die Einführung individueller Gesundheitsberater, die unabhängig von Berufsrollen im Gesundheitswesen bei der komplexen Entscheidungsfindung in lebenswichtigen Gesundheitsfragen individuelle Hilfestellung leisten können.

3. Lebensqualität als Leitmotiv: Die Förderung von Wegen der Vielfalt

Steht die persönliche Lebensqualität und die Selbstbestimmung als Gerechtigkeitsmotiv im Vordergrund, hat dies institutionelle Konsequenzen. Ein Beispiel ist die Abkehr von einem therapeutischen Maximalismus, der sich ggf. belastend auf die Lebensqualität von Patienten und ihrer Familien auswirken kann. Hier gehört zur Selbstbestimmung- und zur Gerechtigkeit im Gesundheitswesen- das Recht auf den Verzicht, d.h. das Recht auf die Ablehnung belastender Therapiepfade („Therpeutisches Veto-Recht“).

Im Sinn der Subsidiarität hat ein Gesundheitssystem unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten aber auch dafür Sorge zu tragen, dass regionalen Besonderheiten und individuellen Profilen auch von Krankenkassen Rechnung getragen wird. Dies kann dadurch erreicht werden, dass indikationsspezifische Zusatzleistungen von Krankenkassen gestattet werden, die möglicherweise sogar regional spezifiziert sind.

Über Krankenkassen hinaus ist aber auch ein regionaler Gestaltungsauftrag zu beachten, der etwa in Form von regionalen Gesundheitsparlamenten oder kommunalen „Runden Tischen“ zu Gesundheitsthemen realisiert werden kann. Regionalen Anforderungen kann dann leichter und besser Rechnung getragen werden.

Wege der Vielfalt im Gesundheitswesen sind nicht gleichzusetzen mit einem Abschied aus einer für alle gültigen Standardversorgung mit Basisleistungen. Sie erlauben vielmehr subsidiäre Maßnahmen, gleich ob solche über das gesetzlich definierte Mindestmaß hinaus gehende Leistungen als Regelleistung individueller Krankenkassen, als regional gültige Zusatzleistung des Gesundheitssystems oder als Versicherungsleistung in Folge von individuellen Gesundheitszusatzversicherungen ausgestaltet werden.

4. Die Entwicklung der Rationalität institutioneller Verfahren

Steht Lebensqualität im Vordergrund, dann sind Fragen der Gerechtigkeit im Gesundheitssystem in Deutschland auch unter dem Blickwinkel der Entscheidungsfindung in institutionellen Verfahren zu erörtern. Legitimität und Repräsentation sind dabei gleichermaßen gefordert, aber nicht immer leicht in Einklang zu bekommen.

Ein wesentliches Thema bildet dabei der Zugang zu Innovationen. Hier kann sich ein Zwei-Phasen-Modell empfehlen, bei dem Kassen und Regionen das Recht erhalten können, einen bestimmten Teil ihres Budgets für die Erprobung von Innovationen einzusetzen, die zunächst ad experimentum zugelassen und dann nach definierten Maßstäben in ihrer Wirksamkeit beurteilt werden. Ein solches Zwei-Phasen-Modell der Zulassung von Innovationen entspricht einem rationalen Verfahren im Umgang mit einem gesundheitlichen Chancen- und Risikomanagement.

Gerade die Zulassung individueller Wege von Krankenkassen und regionaler oder kommunaler Instanzen der Gesundheitssteuerung erfordern aber auch eine öffentliche Diskussion in größerem Maßstab. Es ist daher ein Gebot der Gerechtigkeit, auf die Erstellung eines nationalen Gesundheitsplans zu drängen. Dieser muss absehbare Fragestellungen ebenso wie finanzielle Restriktionen adressieren, also beispielsweise auch Vorschläge zur Allokation von Gesundheitsleistungen, zur Priorisierung von Leistungen und zu Leistungsausschlüssen ausarbeiten.

5. Systemgerechtigkeit und personale Selbstbestimmung

Der Einzelfall einer Krankheit, einer Behinderung oder einer diagnostischen Leistung im Gesundheitswesen ist nur bedingt vorhersehbar. Gerechtigkeit muss am Ende der einzelnen Person wie dem Gemeinwesen in seiner Gesamtheit zukommen. Für jedes Gesundheitswesen besteht folglich die Aufgabe in einem Spagat zwischen absoluter Selbstbestimmung und regelgeleitetem Verhalten im Interesse der Allgemeinheit.

Aus solchen Gesichtspunkten heraus ist die Festlegung von allgemeinen Behandlungsleitlinien im Sinn der Evidence-Based-Medicine legitim. Gleichzeitig ist aber die Zulassung von Ausnahmen von solchermaßen definierten Behandlungspfaden zu fordern, nicht nur um neue und womöglich bessere Erkenntnisse zu gewinnen, sondern auch um den Zug der Innovation zu fördern, der durch eine sehr schwerfällige generelle und ausnahmslose Festlegung auf immer auch zeitbedingte Diagnose- und Behandlungsmethoden gehemmt würde.

Grundsätzlich gilt in einem demokratischen Gemeinwesen der Vorrang der Partizipation. Rein marktidealistische oder „meritokratische“ Zugänge zu medizinischen Leistungen können daher zwar in einem bestimmten Rahmen, nicht aber als allgemeines Leitmotiv im Gesundheitswesen zur Geltung kommen.

Wesentlich ist vielmehr immer wieder die Vorrangstellung von Werten wie der allgemeinen Menschenwürde und der höchstpersönlichen, individuellen Selbstbestimmung jeder einzelnen Person im Kontext ihres sozialen Systems. Und da kein einzelner für alle, aber jeder für die eigenen Person entscheiden kann und will, ist aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten weder die Rationalität und Transparenz institutioneller Entscheidungsprozesse noch die Vorrangstellung der individuellen und subjektiven Selbstbestimmung im Interesse einer höchstmöglichen Lebensqualität verzichtbar: Beide sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.

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