Um eine gute Versicherungsstruktur zu erstellen, muss man sich das deutsche Krankenkassensystem vor Augen führen – Gedanken von Ulrich Hemel, Leiter und Begründer des IfS.
Das deutsche System der Krankenkassen ist von einem Solidaritätsgedanken getragen, der im Wettbewerb mit der Idee der Effizienz der Leistungserbringung steht. Denn einerseits gibt es einen Risikostrukturausgleich, der einen erheblichen Kostenblock in der betriebswirtschaftlichen Rechnung einer Krankenkasse darstellt. Andererseits wird die effizient wirtschaftende Krankenkasse tendenziell dafür bestraft, dass sie weniger Geld als ihr Wettbewerb ausgibt.
Wie ist dies möglich? Wo stehen wir zwischen Systemgerechtigkeit und betriebswirtschaftlicher Rationalität?
1. Leitgedanke einer guten Versicherungsstruktur: Bessere Systemgerechtigkeit möglich und notwendig
Nehmen wir eine Betriebskrankenkasse, die „Müller BKK“, im Vergleich mit der regionalen AOK. Bei der Betriebskrankenkasse sind überwiegend aktive, berufstätige Menschen und ihre Familien versichert. Hochbetagte, chronisch Kranke und Arbeitslose kommen deutlich weniger vor als bei der AOK. „Strukturell“ hat die AOK also höhere, die BKK niedrigere Kosten! Daher ist der Gedanke des Risikostrukturausgleichs zunächst einmal gerecht, wenn wir vom System her nicht dazu kommen wollen, Menschen mit bestimmten Gesundheitsrisiken generell auszuschließen!
Nehmen wir gleichzeitig an, die BKK würde von der „Müller AG“ dadurch unterstützt, dass ein Teil der Personalkosten übernommen und ein paar Büroräume zu günstigen Preisen zur Verfügung gestellt würden. Im gleichen Ort baut die AOK in zentraler Lage ein aufwändiges Gesundheitsverwaltungsgebäude als Verwaltungszentrum.
An dieser Stelle versagt das System des Risikostrukturausgleichs heute. Das ist kein Wunder, da es im Gesundheitswesen immer wieder Spannungen zwischen betriebswirtschaftlichen und sozialpolitischen Gesichtspunkten kommt! Wir sollten uns vom Leitgedanken „Eine bessere Systemgerechtigkeit ist möglich“ aber nicht zu schnell verabschieden.
2. Kernkriterien: Gleichgewicht zwischen sozialpolitischen und betriebswirtschaftlichen Erwägungen
2.1 Schließlich wäre es durchaus möglich, den Risikostrukturausgleich daran zu messen, wie hoch die Verwaltungskosten pro Versichertem sind. Nun kann die AOK vielleicht nicht die Hilfe befreundeter Unternehmen in Anspruch nehmen. Dennoch erscheint es rational, den Risikostrukturausgleich um einen Korrekturfaktor zu bereichern, der etwa besagt: „Der Ausgleich wird um den Betrag gekürzt, der sich aus Verwaltungskosten ergibt, die höher als 110% des Durchschnitts aller Krankenkassen betragen“. In diesem Fall müsste die hier fiktive regionale AOK einen Teil der überhöhten Verwaltungskosten selbst aufbringen – was sie zu vorsichtigerem Handeln führen wird!
2.2 Die gleiche Suche nach einem Gleichgewicht zwischen sozialpolitischen und betriebswirtschaftlichen Erwägungen gilt auch für die Struktur der Krankenversicherung selbst. In Deutschland bestehen heute private und gesetzliche Krankenversicherungen nebeneinander. Sie stehen in einem verzerrten Wettbewerb zueinander. Einerseits wird der Leistungsumfang der Kassen vom Gesetzgeber detailliert vorgeschrieben. Andererseits funktioniert die Risikobewertung des einzelnen Patienten bei der privaten Krankenversicherung völlig anders als im Raum der gesetzlichen Krankenkassen, die im Grunde jeden Versicherten ohne Rücksicht auf Vorerkrankungen aufnehmen müssen.
Gegner und Befürworter der privaten Krankenversicherungen beargwöhnen sich misstrauisch, weil sie Sorge haben, dass sich aus diesem strukturellen Ungleichgewicht des Angebots Nachteile für die eine oder andere Seite ergeben.
Wer als Kernkriterium die Balance zwischen sozialpolitischem Auftrag und betriebswirtschaftlicher Rationalität festhält, wird dennoch auf weiter führende Anregungen stoßen. Beispielsweise ist nicht einzusehen, dass das Leistungsangebot der Krankenkassen nicht individuell gestaltet werden darf. Solange es einen Wettbewerb durch den Beitragssatz gibt, wird es gleichwohl nicht zu einem „Wunschkonzert“ angebotener Leistungen kommen: Diese müssen schließlich auch bezahlt werden.
3. Generelle Leitlösung: Differenzierung im Wettbewerb durch indikationsspezifische, freiwillige Zusatzleistungen statt Diskriminierung nach soziodemographischen Merkmalen
3.1 Umgekehrt gilt aber: Wenn eine Krankenkasse Zusatzleistungen anbieten darf, die über den gesetzlichen Rahmen hinausgehen, dann schaffen wir Raum für sinnvolle Differenzierung und produktiven Wettbewerb. So könnte sich eine Krankenkasse mit Sitz in einem Gebiet mit besonders hohen Werten für Hautkrankheiten dadurch auszeichnen, dass sie besondere dermatologische Leistungen abrechnet, die andere Kassen nicht akzeptieren.
3.2 Umgekehrt wäre es möglich, dass eine Kasse in einem Brennpunkt psychischer Krankheiten ihr Leistungsangebot auf diesem Gebiet ausweitet. Selbst wenn diese Kasse dazu gezwungen wäre, einen leicht höheren Beitrag als andere zu nehmen, könnte dies für die Menschen in der betroffenen Region attraktiv sein: Schließlich steht der Patientennutzen im Vordergrund!
3.3 Ein solcher Wettbewerb der Differenzierung steht nicht im Konflikt mit sozialpolitischen Zielsetzungen. Beispielsweise könnte die Berechnung des Risikostrukturausgleichs auf die Pflichtleistungen begrenzt werden! Dadurch wird die wettbewerbliche Differenzierung dort ausgeschaltet, wo sie Vergleichbarkeit erschwert. Genau das aber sollte gewollt sein!
3.4 Zu den sozialpolitischen Aufgaben des Gesundheitswesens und Voraussetzung einer guten Versicherungsstruktur gehört weiterhin ein diskriminierungsfreier Zugang zu Gesundheitsleistungen. Gleichzeitig bedeutet dies, dass weder Alter noch Geschlecht, weder Einkommen noch Gesundheitszustand grundsätzlich als Hürde für die Aufnahme in eine Versichertengemeinschaft Eingang finden dürften.
Die Realität- zumindest bei privaten Versicherungen – sieht jedoch anders aus. Lässt man diese Realität zu, dann wird es einen intensiven Wettbewerb um junge, gesunde Berufstätige Anfang 30 geben, während Menschen ab etwa 75 Jahren am besten in eine andere Kasse abgeschoben werden müssten. Auch hier bewährt sich der Risikostrukturausgleich. Wer jedoch nicht eine Gruppe gegen die andere ausspielen will, der sollte den Wettbewerb der Krankenkassen weniger an den demoskopischen Merkmalen ihrer Mitglieder ausrichten, sondern eher in die Richtung eines differenzierten Leistungswettbewerbs gehen.
3.5 Stellen wir uns vor, eine Krankenkasse „Alpha“ würde den Weg der Spezialisierung auf koronare Herzkrankheiten, die zweite „Beta“ auf Übergewicht und die dritte, “Gamma“, auf psychosomatische Erkrankungen wählen. Eine vierte Krankenkasse „Dora“ beschränkt sich auf das gesetzlich vorgeschriebene Mindestangebot.
Alle vier Krankenkassen müssten sämtliche Leistungen anbieten, die vom Gesetzgeber gewollt werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre die Krankenkasse „Dora“ die günstigste. Wenn jemand aber in der Familie eine Disposition für Herzerkrankungen hat, wird er es sich gut überlegen, ob er nicht zur etwas teureren Krankenkasse „Alpha“ wechseln würde. Ähnliches gilt für andere Patientengruppen.
Über den Risikostrukturausgleich wäre ein gewisser Ausgleich zwischen den vier Kassen weiterhin möglich und sinnvoll. Gleichzeitig ist es jedoch hoch wahrscheinlich, dass das Fachwissen jeder Krankenkasse auf dem Gebiet des eigenen Schwerpunkts ungleich höher liegen würde als das der Wettbewerber. Medizinisch ist dies kein Nachteil: Schließlich gereicht es sowohl der betroffenen Kasse wie den Leistungserbringern nur zum Vorteil, wenn Leistungen differenziert betrachtet und unter Gesamt-Nutzenerwägungen gewürdigt werden.
So würde eine neuartige koronare Behandlungsmethode mit großer Wahrscheinlichkeit zunächst in Kasse „Alpha“ erprobt werden können, während Kasse „Dora“ noch abwarten würde und dies auch dürfte.
Der volkswirtschaftliche Nutzen würde darin bestehen, dass Räume der Erprobung auch für neue Wege gebahnt werden, die heute auf große Widerstände stoßen. Diese Widerstände sind aus Sicht des heutigen Systems rational, denn die Zulassung einer Innovation zieht das Recht nach sich, dass diese flächendeckend von allen Krankenkassen eingesetzt werden darf.
Im System der Differenzierung nach indikationsspezifischen Zusatzleistungen wäre das „Risiko“ für die Einführung einer Innovation begrenzt: Die eine oder andere Krankenkasse würde sich entscheiden, die Rolle eines Vorreiters zu spielen. Im Sinn einer Evidence-Based Medicine würde nach einiger Zeit der Erfolg solcher Maßnahmen bewertet. Je nach Ergebnis würde ein neues Behandlungskonzept oder eine innovative Therapie dann flächendeckend eingeführt, als begrenzte Leistung fortgeführt oder wieder verworfen! Den Nutzen aber hätten nicht nur die betroffenen Patienten, sondern das gesamte Gesundheitssystem!
3.5 Unabhängig davon sollte dem Patienten mehr Möglichkeit gegeben werden, nach seinen Präferenzen und Indikationsproblemen zu wechseln. So wären die Gruppen GKV und PKV nicht so zu gestalten, dass sie mehr oder weniger geschlossene Gruppen sind oder nur der Wechsel in eine Richtung möglich wird. Auch die vertragsgemäße Kündigung in der PKV und der Wechsel in eine GKV-Kasse mit entsprechender Spezialisierung nützt der sozialpolitischen als auch der betriebswirtschaftlichen Komponente im Wettbewerb und damit der Gerechtigkeit.