Gild die freie Arztwahl, oder ist es sinnvoll, dem Patienten Wege und Prozesse zur Gesundheit einschließlich des Arztes vorzuschreiben?
Wird das Gesundheitswesen als Solidargemeinschaft begriffen, ergibt sich aus diesem Konzept zwangsläufig eine bestimmte Vorstellung über Rechte und Pflichten, Verantwortlichkeiten und Spielregeln zwischen allen Beteiligten. Die Balance zwischen den sehr unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen der Mitspieler im Gesundheitswesen ist schwer zu finden; oft lässt sich nur konstatieren: „So und so ist es historisch geworden.“
Leitgedanke: Die Arzt-Patienten-Beziehungen als Grenze, Herausforderung und Chance für eine Evidenzbasierte Medizin
Mit der Bewegung für evidenzbasierte Medizin und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen wurde ein starker Akzent in Richtung definierter Leitlinien für Diagnose und Therapie gesetzt. Auch dieser Akzent hat Nebenwirkungen, denn eine neue, überlegene Behandlungsmethode wird anfänglich ja gerade nicht Bestandteil des allgemein anerkannten Behandlungspfads sein können. Sie muss sich also gegen hohe Widerstände durchsetzen.
Gleichzeitig führt eine Normierung der Handlungs- und Behandlungsweisen von Ärzten zu kritischen Betrachtungen gegenüber Querdenkern und Außenseitern. Dies mag angesichts des Vorteils an professionellen Standards insgesamt gerechtfertigt sein, schließt aber auch den einen oder anderen innovativen Kopf vom Mainstream des Gesundheitswesens aus.
Vorgeschriebene Diagnose- und Behandlungspfade sind darüber hinaus zwangsläufig dem Einfluss gruppendynamischer Prozesse mit unterschiedlichen Meinungsbildnern ausgesetzt. Der Prozess der Festlegung definierter Diagnose- und Behandlungsleitlinien mag zwar durch ein Höchstmaß wissenschaftlicher Erkenntnis legitimiert werden. Dies ändert aber nichts daran, dass wissenschaftliche Ergebnisse immer auch Gegenstand von Deutungen, Interpretationen und Bewertungen werden müssen, die von Person zu Person, von Fachrichtung zu Fachrichtung unterschiedlich ausfallen können.
Schließlich gibt es gerade im medizinischen Raum die Besonderheit der zwischenmenschlichen Beziehung. Diese objektiv zu messen, erweist sich als schwierig. Eine gute Arzt-Patienten-Beziehungen alleine heilt nicht; aber ohne sie wird Heilung tendenziell unwahrscheinlicher. Wenn es wahr ist, dass die Qualität der menschlichen Beziehung mit dem Patienten eine wesentliche Rolle bei der Heilung spielt, folgt daraus logisch, dass ein noch so klar definierter Behandlungspfad nicht alle Komponenten einer Therapie abdecken kann.
So ist es typisch, dass die Angst vor den Folgen einer Krankheit sich alltagsweltlich in der Sorge um Nebenwirkungen eines Medikaments ausdrückt. Dies ist rational, weil es solche Nebenwirkungen ja tatsächlich gibt. Es reicht aber nicht aus, im Gespräch mit dem Patienten auf statistische Wahrscheinlichkeiten einzugehen. Wichtig ist viel mehr, über die objektivierbare Information hinaus die berechtigten Ängste des Patienten aufzugreifen und ernst zu nehmen. Dies macht es dann leichter, über die Nebenwirkungen hinaus die erstrebte Hauptwirkung zu thematisieren.
Was so einfach klingt, hat unabsehbare Folgen, etwa im Blick auf die Compliance der Patienten, die ja ihrerseits einer der entscheidenden Faktoren für jeden Behandlungserfolg darstellt.
Kernkriterien: Beispiel Freie Arztwahl – Systemgerechtigkeit und personale Selbstbestimmung
Das Nachdenken über Lenkungs- und Steuerungswirkungen im Gesundheitssystem zielt auf den großen Vorteil der Nachvollziehbarkeit und Nachprüfbarkeit dessen, was aktueller Behandlungsstandard ist. Dies umfasst einen gewissen Schutz der Patienten vor Quacksalbern, überholten Methoden und wissenschaftlich nicht nachgewiesenen Therapien. Gleichzeitig realisiert ein solcher Ansatz ein Stück Systemgerechtigkeit, weil vom Grundsatz her eine Leistung gleicher Art und Güte für jeden verfügbar gemacht werden soll, der unter einer bestimmten Erkrankung leidet. Schließlich steht auch der Wert der Verantwortung zur Diskussion, denn mit den Mitteln der Versicherten ist möglichst rational und effizient umzugehen.
Gleichzeitig gehört es zu den Nebenwirkungen jedes Systems mit normativen Vorgaben, dass es Grenzen der Selbstbestimmung aufweist, die im Extremfall bis hin zur Gängelung reichen können.
Dies kann am Thema der freien Arztwahl verdeutlicht werden. Bis vor kurzem galt dies als einer der zentralen Werte im deutschen Gesundheitssystem. Mit den veränderten Rahmenbedingungen der letzten Jahre wurde immer stärker darüber diskutiert, dass Krankenkassen Verträge mit einzelnen Ärzten oder definierten Ärztegruppen abschließen, bei denen beide Seiten gewinnen sollten: Die Krankenkassen durch die Durchsetzung bestimmter Behandlungspfade, die Ärzte durch – vereinfacht gesagt- für sie verbesserte Vergütungssysteme. In Kauf genommen wurde dabei eine partielle Einschränkung der freien Arztwahl und der freien Wahl von individuellen Behandlungskonzepten.
Die Folgen daraus sind noch nicht definitiv zu bewerten, wirken aber auf den ersten Blick zwiespältig. Wie im Alltagsleben, ergibt sich auch im medizinischen Bereich eine enorme Vielfalt an Fragestellungen, die sich nicht ohne weiteres einem vorgegebenen Raster fügen. Die Begrenzung der Wahlfreiheit des Patienten ist dabei das eine; die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten des Arztes das andere. Im Extremfall wird sich der behandelnde Arzt als weisungsgebundener Angestellter einer Krankenkasse fühlen- was gerade nicht mit dem Berufsbild des verantwortungsbewussten, aber freien Entscheiders in Gesundheitsfragen übereinstimmt, wie es bei den meisten Ärztinnen und Ärzten vorhanden ist.
Die Frage der Selbstbestimmung richtet sich also nicht alleine an den Wünschen und Bedürfnissen der Patienten aus, sondern betrifft unmittelbar Rolle und Berufsverständnis des Arztes. Dabei kann und darf es durchaus sein, dass bestimmte, sinnvolle Leistungen zwar nicht von der Krankenkasse erstattet werden, aber sehr wohl in freier Vereinbarung zwischen Arzt und Patient erbracht und privat bezahlt werden können.
Das System der IgeL-Leistungen spiegelt diesen Gedanken. Auch hier weisen Kritiker allerdings auf die Besonderheit der Arzt-Patienten-Beziehung hin, die möglicherweise zu Situationen führt, in denen Patienten Leistungen aufgedrängt werden, die medizinisch tatsächlich nicht nötig sind.
Leitlösung: Die Balance zwischen persönlichem Beitrag und Systembeitrag bei der Diagnose und Therapie von Erkrankungen
Freiheit und Gängelung, Selbstbestimmung und Handeln nach vorgegebenen Regeln stehen somit grundsätzlich in einem engen Spannungsverhältnis. Auch hier gilt- wie so oft im Gesundheitswesen- dass es eine definitive Leitlösung für alle Zeiten und Situationen nicht geben wird. Das Gesundheitswesen hat grundsätzlich eine politische, also die gesamte Polis betreffende Struktur. Schließlich ist es ebenso politisch, Wahlfreiheit für wirtschaftlich starke zuzulassen wie Leistungen für die Allgemeinheit auszuschließen.
Vorgaben zu Diagnose- und Behandlungspfaden dürfen aber aus Gerechtigkeitsgesichtspunkten nicht zu eng gestaltet werden. Ausnahmen müssen schon deshalb möglich sein, weil die Vielfalt des Lebens uns ansonsten eine Fülle von speziellen Fallgestaltungen präsentiert, die das ursprünglich Gemeinte und Gewollte ad absurdum führt. In der Praxis bedeutet dies, dass es Spielregeln für definierte Ausnahmen geben kann und geben muss.
Solche Ausnahmen sind besonders dort notwendig, wo es um Innovationen und wo es um sehr persönliche Themen geht. Die Vorgabe von Diagnose- und Behandlungspfaden sollte ein Instrumentarium für definierte Innovationen bereit halten, für die ein Arzt, ein Krankenhaus oder ein sonstiger Leistungserbringer sich vor einem kundigen Gremium qualifizieren kann.
Auch auf der Ebene des einzelnen Arztes wäre es darüber hinaus beispielsweise sinnvoll, einen wählbaren Raum für abweichende Behandlung zu definieren. Normvorgaben verlieren mit einer solchen 80/20-Regel nicht ihren lenkenden, aber sehr wohl ihren diktatorischen Charakter.
Zu den definierten Ausnahmen sollte aus Patientensicht das Recht auf freie Arztwahl und freie Behandlungswahl gehören. Die Arzt-Patienten-Beziehung beruht in so hohem Maß an Vertrauen, dass wohl abgewogen werden muss, wo ein Gesundheitssystem in sie eingreift. Dabei reicht es nicht aus, Hausärzte als Lotsen im Gesundheitssystem zu begreifen; vielmehr ist es Sache der Patienten, für sich selbst zu entscheiden, wem im Gesundheitswesen sie ihr Vertrauen für die persönliche Navigation im Gesundheitssystem schenken wollen. Der Gedanke individueller Gesundheitsberater könnte auch hier durchaus zum Tragen kommen.
Wenn ein Patient vom definierten Diagnose- und Behandlungspfad abweichen will, kann es folgerichtig sein, ihn in höherem Ausmaß als sonst an den entstehenden Kosten zu beteiligen. Die erhöhte Kostenbeteiligung ist dann nämlich Ausdruck einer gewissen Balance aus Systemgerechtigkeit und individueller Wahlfreiheit. Sie besagt im Grunde: Wenn jemand vom empfohlenen Pfad abweichen will, soll er das Recht dazu haben, muss aber eine höhere Eigenbeteiligung und Eigenverantwortung akzeptieren.
Positiv an dieser Lösung ist die Ermutigung zu Wahlfreiheit, aber auch zu Verantwortung bei allen Beteiligten. Denn niemand wird sich zu höheren Zahlungen bereit erklären, der nicht zumindest subjektiv gute Gründe hat, vom breiten Pfad abzuweichen. Die Übernahme von Verantwortung wird sich in diesen Fällen auch in Form einer verbesserten Compliance nieder schlagen- was ja ein erklärtes Ziel jedes effizienten Gesundheitswesens ist.
Schließlich und endlich ist ein solches System mit einem definierten Verhältnis von Regel und Ausnahme innovationsfreundlich. Entscheiden sich nämlich mehr und mehr Personen für neue Wege, obwohl sie höhere Zahlungen in Kauf nehmen müssen, kann dies ein Hinweis auf innovative, aber noch nicht allgemein akzeptierte Verfahren sein. Zur Systemgerechtigkeit gehört es daher nicht nur, solche Anregungen aufzugreifen, sondern sich mit einem gewissen Zeitverzug und im Sinn eines lernoffenen Systems auf die daraus folgenden Änderungen einzustellen. Anders gesagt: Was gestern die Ausnahme war, kann morgen zur neuen Regel im allgemein empfohlenen Behandlungspfad werden!